Claire Lombardo – „Der größte Spaß, den wir je hatten“

„Man ist nicht der Grund für das Glück der Eltern, sondern dafür zuständig, dass sie trotzdem glücklich sind.“

Ein gesundes Bauchgefühl kann uns vor schlechten Entscheidungen bewahren. Unser Instinkt schützt uns davor, in gewissen Situationen etwas Falsches zu machen und unter anderem auch davor – der Leseerfahrung sei dank – ein Buch in die Hand zu nehmen, Zeit mit ihm zu verbringen und zu vergeuden, das uns nicht gefallen wird. Da war dieser dicke Roman. Ein Debüt, das Buch einer jungen Amerikanerin. Auf dem Umschlag lobende Worte, sogar von dem mir sehr geschätzten Pulitzer-Preisträger Richard Russo. Ich war skeptisch! Schob die Lektüre vor mir her. Bis ich „Der größte Spaß, den wir je hatten“ von Claire Lombardo schließlich doch las und die Erfahrung machte, dass das Bauchgefühl manchmal auch komplett daneben liegen kann.

Ein Paar, vier Töchter

Der Erstling der 1989 in Illinois geborenen Autorin ist ein dicker Wälzer mit mehr als 700 Seiten Umfang. Ich las den Roman indes in wenigen Tagen – zu und rund um Weihnachten, dem Fest der Liebe und der Familie. Im Sessel sitzend, auf dem Sofa oder dem Bett liegend. Ich vergaß oftmals die Zeit um mich herum. Eingesogen von der wechselvollen, mehrere Jahrzehnte umspannenden Geschichte der Familie Sorenson. Marilyn und David lernen sich 1975 auf dem College kennen und lieben. Die vier Töchter Wendy, Violet, Liza und Grace kommen in unterschiedlichen Abständen zur Welt. Während Marilyn ihr Literaturstudium für die allmächlich wachsende Familie an den Nagel hängt, praktiziert David erfolgreich als Arzt. Ihre Liebe ist eine besonders innige und liebevolle – bis ins Alter und trotz der Jahre, alltäglicher Herausforderungen, mehrerer Krisen und schicksalhaften Erschütterungen.

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Die Handlung wird nicht linear erzählt, sondern in zwei Strängen, die aufeinanderzulaufen. Während der erste Strang die Geschichte der Sorensos von der Begegnung von Marilyn und David bis zur Kindheit und Jugend der Kinder schildert, widmet sich der zweite Strang den Ereignissen in der jüngsten Vergangenheit. Der Vater der vier Töchter ist in den Ruhestand gegangen, seine Frau betreibt erfolgreich und mit Freude einen Eisenwarenladen. Alle vier Kinder – mit Grace sogar das jüngste – sind aus dem Haus, mehr oder minder erfolgreich. In diesen Status quo sorgt allerdings eine besondere Begegnung für Unruhe: Violets erster Sohn Jonah, den sie ohne das Wissen ihrer Eltern vor 15 Jahren zur Adoption freigegeben hat, kommt überraschend zurück in die Familie. Wendy, die älteste der Geschwister, hatte ihn ausfindig gemacht, nachdem dessen Adoptiveltern ums Leben gekommen waren. Das Leben der Sorensons wird fortan gehörig auf den Kopf gestellt.

„Die Stirn hatte er von ihrem Vater, die Wangenknochen erinnerten sie an ihre Großmutter mütterlicherseits, die sie mal auf einem Foto gesehen hatte. Wie seltsam, dass solche winzigen Spuren sich in die Landschaft eines Gesichts gruben, wie geisterhafte Erinnerungen an Menschen, die man nie kennengelernt hatte.“

Von diesen überraschenden Ereignissen gibt es so einige im Roman, der die verschiedenen Perspektiven und Ansichten seiner Protagonisten schildert. Die Wendungen und Geheimnisse, von denen nach und nach berichtet wird und die sich zu einem Bild der Familie fügen, sorgen das ganze Geschehen über für einen stabilen Spannungsbogen. Das Leben der Sorensos ist nicht immer eitel Sonnenschein, sondern gefüllt mit ergreifenden Schicksalsschlägen, die ich an dieser Stelle fairerweise nicht aufzählen möchte. Der Familienroman versammelt da so einiges: Beziehungsprobleme, Krankheit, Tod und schmerzliche Verluste. Keine der Figuren, die in ihrem jeweiligen Wesen, Werdegang und Beziehungen zu den anderen Familienmitgliedern plastisch geschildert werden, ist unbelastet, befreit von den dunklen Seiten des Daseins. Keines dieser dramatischen Ereignisse, die neben dem alltäglichen Wahnsinn in einer Familie ein Leben beherrschen, lässt den Leser unberührt. Sensible Seelen sollten Taschentücher bereithalten. Und auch dieses starke Band zwischen Marilyn und David rüttelt kräftig an Herz und Seele. Ohne kitschig oder pathetisch zu wirken.

Dabei ist der Roman nicht frei von Humor, warum auch bei solch einem speziellen Titel, der zu besonderen Szenen widerkehrt. Wo Schatten ist, da muss es Licht geben. Lombardo hat ein Händchen für lebendige, schlagfertige Dialoge und teils skurrile Szenen. Mit dem feuchten Taschentuch in der Hand lässt sich prima schmunzeln oder befreit glucksen. Neben dem „größten Spaß“ ist es der Gingko-Baum, der sich wie ein roter Faden durch den Roman zieht und wie der jeweilige Hund der Sorensons ein steter Begleiter der Familie. Unter seiner Krone kamen sich Marilyn und David näher, in seiner Nähe geschieht rund 40 Jahre später ein dramatisches Unglück, das gegen Ende des Buches nach den Turbulenzen um Jonah die Familie zusammenschweißt.

Ein Schmöker – im besten Sinne des Wortes

Lombardo arbeitete als Sozialarbeiterin und PR-Agentin. Sie absolvierte den Iowa Writers’ Workshop und wirkt nunmehr als Dozentin für Kreatives Schreiben tätig. Wie es ihr bereits als junge Autorin in ihrem Debüt gelingt, die ganze Breite eines Familienlebens anhand einer Reihe besonderer Protagonisten abzubilden und Unterhaltung mit Anspruch zu verbinden, erstaunt. Neben der Frauen- und Mutterrolle verhandelt sie die Frage, wie entscheidend sind Anforderungen und Ansprüche anderer an das eigene Leben. „Der größte Spaß, den wir je hatten“ ist ein sowohl berührender als auch vergnüglicher, aber auch nachdenklich stimmender Roman über die sichtbaren wie unsichtbaren Verbindungen einer Familie. Vor allem aber ist er ein Schmöker – im besten Sinne des Wortes.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Literaturblog „letteratura“.


Claire Lombardo: „Der größte Spaß, den wir je hatten“, erschienen im dtv Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Sylvia Spatz; 720 Seiten, 25 Euro

Bild von RealAKP auf Pixabay

10 Kommentare zu „Claire Lombardo – „Der größte Spaß, den wir je hatten“

  1. Habe ich zu Weihnachten geschenkt bekommen und gerade gelesen.
    Anfangs gefiel es mir überhaupt nicht, dann aber doch immer besser.
    Ich bin unschlüssig ob ich es wirklich gut finde. Sehr gut jedenfalls nicht.
    Du schreibst, es sei ohne Kitsch und Pathos. Da kann ich nicht ganz zustimmen, mir war es stellenweise doch etwas zu kitschig. Andererseits gefiel mir die Beschreibung der unterschiedlichen Charaktere sehr gut. Und Interesse an dieser Familie entwickelt sich beim Lesen allemal.
    Bekäme bei mir 3-4 Sterne ( bei 5 Sternen)

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    1. Vielen Dank, liebe Elvira, für Deinen ausführlichen Kommentar und die differenzierte Meinung zu dem Roman. Es ist immer wieder interessant, wie unterschiedlich ein Buch beim Leser ankommt, wie er es empfindet und beurteilt. Viele Grüße

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