Leben als Parodie der Träume – Stephan Thome "Fliehkräfte"

„(…) manche Orte bleiben auf ähnliche Weise sie selbst wie Menschen.“

Er hat alles erreicht, wovon er geträumt hat. Hartmut Hainbach, Endfünfziger, ist Philosophieprofessor an der Uni Bonn. Mit seiner aus Portugal stammenden Frau Maria hat er eine bereits erwachsene Tochter. Doch das Paar lebt, seit zwei Jahren geografisch von einem halben Deutschland getrennt, eine Wochenendbeziehung. Überhaupt erscheint die Familie im Raum verstreut wie die Ecken eines Dreiecks, denn Tochter Philippa studiert in Santiago de Compostela. Als Hainbach von einem Freund, einem Verleger, das Angebot auf eine Stelle in dessen Unternehmen erhält, ringt Hainbach mit seiner Entscheidung. Soll er seinen Traum, als Professor zu wirken,  aufgeben, um damit seiner Frau wieder näher zu kommen, die, an einem Theater tätig, in Berlin wohnt.

Stephan Thome, der vor drei Jahren mit seinem Romandebüt „Grenzgang“ von der Literaturkritik gefeiert wurde, legt nun mit seinem zweiten Roman „Fliehkräfte“ ein sowohl sensibles Porträt einer Familie als auch ein philosophisches Werk zum Thema Lebensziel und Lebenstraum vor. Denn was erwartet ein erfolgreicher Mann wenige Jahre vor dem Ruhestand vom Leben, wenn plötzlich ihn ein Angebot erreicht, mit dem alles auf den Kopf gestellt wird, in die bereits vertraute Situation etwas Unerwartetes eintritt. Soll er es wagen, das Lebensziel für nichtig zu erklären, um eine neue Aufgabe anzunehmen und eine andere Form des Glücks zu finden?

Die Zeit der Entscheidung füllt Hainbach mit Erinnerungen: an seine Studienzeit in den USA in den frühen 70er Jahren, an seine erste Beziehung mit der Französin Sandrine, an die Hochzeit seines Neffen Florian, den Auszug seiner Frau und der Tochter aus dem großen Haus in Bonn. Eines Tages werden ihm seine Einsamkeit und jene weinseligen Abende zu viel. Hainbach setzt sich in sein Auto und fährt spontan los. Sein erstes Ziel: Paris, wo er seine ehemalige Freundin Sandrine trifft, wenig später taucht er bei seinem früheren Kollegen Bernhard auf, der vor Jahren seine Juniorprofessur an den Nagel gehangen hatte und nun ein Restaurant nahe der Atlantikküste in Südfrankreich führt. Im Anschluss besucht er seine Tochter in Santiago, die ihm beichtet, dass sie mit einer Frau zusammenlebt. Die Tour durch Südeuropa endet in Portugal. Denn Hainbachs Schwiegervater liegt im Krankenhaus. Er und seine Frau Maria treffen in deren Heimat aufeinander. Und eine Entscheidung muss her.

Wenn auf den ersten Blick das Geschehen des Romans recht unaufgeregt erscheint, die Lektüre des Buches ist es durchaus nicht. Ganz im Gegenteil. Die intensiven Dialoge zwischen Hainbach, seiner Frau und zwischen seiner Tochter, die persönlichen Rückblicke und Reflexionen auf Vergangenes erzeugen einen besonderen Sog; vor allem auch der Tatsache geschuldet, dass Thome sich dank einer geringen Anzahl an Charakteren auf die Ausgestaltung seiner Hauptakteure konzentrieren kann. Wenngleich Hainbach melancholisch, unsicher und kraftlos erscheint – an vielen Stellen finden sich im Gegensatz dazu wunderbare, mit einem gewissen Augenzwinkern erzählte Szenen, beispielsweise die Gespräche zwischen Vater und Tochter oder die Begegnungen des intellektuellen Wissenschaftlers mit dem Familienalltag seiner Schwester Ruth. In dieser liebevoll wie sensibel erzählten Familiengeschichte streut der Autor gesellschaftliche Entwicklungen der jeweiligen Jahre und Jahrzehnte ein. Sowohl das geteilte Deutschland, der wachsende politische Erfolg der Grünen und der künftige SPD-Kanzler Schröder sind hier zu finden als auch die Reisefreiheit in einem vereinigten Europa. Hainbachs Reise durch einen großen Teil des Kontinents verbindet sich mit einem Rückblick auf sein Leben, angefüllt mit  Begegnungen unterschiedlichster Lebensmuster und -pläne. Die Suche nach Antworten auf seine Fragen entwickelt sich zu einer Pilgerfahrt, die sicherlich nicht umsonst als eine der Stationen Santiago de Compostela weiß.

Thomes neues Buch, das auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 stand,  ist damit eines, das all jene sehr prägen wird, die sich Gedanken machen über das Leben, über Träume und Ziele, das Verlockende an Veränderungen und die Kraft des Beständigen. Man kann ganz sicher gespannt sein auf Thomes dritten Roman. Denn er hat sich schon mit seinen ersten beiden Werken einen besonderen Rang unter den besonderen deutschen Erzählern erschrieben.

Der Roman „Fliehkräfte“ erschien im Suhrkamp Verlag.
474 Seiten, 22,95 Euro

3 Kommentare zu „Leben als Parodie der Träume – Stephan Thome "Fliehkräfte"

  1. Das ist eine schöne Rezension! Ich kann auch in dem Punkt nur zustimmen, dass das Buch eine Art Sog erzeugt, dem man sich nur schwer entziehen kann. Zumindest war ich von der Atmosphäre begeistert und habe das Buch bis zur letzten Seite genossen!

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  2. Du hast sehr gut beschrieben, was das Buch so besondes macht! Es kommt auch auf meine Liste der besten 30 Bücher des Jahres,die ich kurz vor Weihnachten immer in meiner Buchhandlung vorstelle. Für mich war es der Favorit zum Deutschen Buchpreis, aber die Krechel hat es andererseits auch verdient.

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