Was bleibt vom Leben? – Rohinton Mistry "Das Gleichgewicht der Welt"

„Damals schien mir, dass man vom Leben nicht mehr erwarten konnte. Eine harte Straße, die mit spitzen Steinen übersät war und, wenn man Glück hatte, etwas Getreide. Später entdeckte ich, dass es verschiedene Arten von Straßen gab.“

Es herrschen Ausbeutung und Aberglauben, Unterdrückung und Willkür der Macht. Indien, das Land der Farben, bietet wenig Lebensfreude. Man schreibt das Jahr 1975. Dina, die Tochter eines Arztes, schlägt sich durch das Leben. Allein, ohne Mann, mit einem herrschsüchtigen Bruder in der Familie. Ihr Mann, mit dem sie eine glückliche Beziehung führte, starb kurz nach der Hochzeit bei einem Verkehrsunfall. Um halbwegs über die Runden zu kommen, eröffnet sie in der Wohnung eine kleine Schneiderwerkstatt und sucht Mitarbeiter. Eines Tages stehen Ishvar und sein Neffe Omprakash vor ihrer Tür. Das besondere Quartett soll wenig später Maneck, der Sohn einer Schulfreundin, vervollständigen, der in Bombay ein Studium beginnt und eine Bleibe benötigt.

Die Geschichte kann beginnen, eine große Erzählung nimmt ihren Lauf. Denn im Roman „Das Gleichgewicht der Welt“ von Rohinton Mistry spielen diese vier Protagonisten die Hauptrolle. Umrahmt von ganz merkwürdigen Gestalten, die vom stetigen Auf und Ab des Lebens, von Schicksalsschlägen und zufälligen Begegnungen, vom Kampf Arm gegen Reich geprägt werden. Nicht nur die Biografien der vier Hauptpersonen berichten darüber: Ishvar und Omprakash wollen den Aufstieg schaffen. Sie stammen eigentlich der niedrigen Kaste der Gerber an, ehe später Ishvar und sein Bruder Narayan den Beruf des Schneiders erlernen, aber dadurch auch den Zorn der Oberen erfahren, sich gegen die Ungerechtigkeit aufbäumen. Narayan wird daraufhin ermordet, Ishvar flieht mit dessen Sohn. Maneck dagegen wird von seinen Eltern, die in der idyllischen Bergwelt des Himalaya leben und einen kleinen Laden führen, in die Stadt zum Studium geschickt. Dort lernt er sowohl seinen Freund Avinash kennen, erfährt aber die Gewalt und Unterdrückung unter den Studenten. Eines Tages ist Avinash verschwunden, Maneck flieht aus dem Wohnheim und findet bei Dina ein neues Zuhause.


Nun könnte der Leser meinen, in der Wohnung beginnen die Vier ein gutes und zufriedenes Leben, mit einer Arbeit, einem Auskommen, einem Ziel im Leben. Doch auch diese Idylle wird immer wieder auf die harte Probe gestellt. Nie zieht wirklich Ruhe ein: Vor allem Onkel und Neffe erfahren mit aller Härte die Ungerechtigkeit und Gewalt. Ihre Hütte in einem Slum wird niedergewalzt, sie werden als vermeintliche Bettler in ein Arbeitslager entführt und dort misshandelt. Das Geschäft von Dina, die abhängig von den Leistungen ihrer Schneider ist, steht immer wieder auf dem Spiel. Während sie in der ersten Zeit ein eher kühles Chef-Angestellten-Verhältnis pflegt, festigen Ishvars und Omprakashs schreckliche Erlebnisse das Verhältnis in der Gruppe. Die Wohnung verwandelt sich in einen Hort der Lebensfreude – über Standes- und Generationsgrenzen hinweg. Man lacht und kocht gemeinsam. Die Ausgaben werden gerecht untereinander verteilt. Gerade in diesen kurzen Momenten der Freundschaft wird der ungeheure Reichtum des Landes sichtbar – dessen Farben, Traditionen, die Lebensfreude, das Mitgefühl.

Aber in dieser Zeit ist jedes Glück bedroht. Indiens Premierministerin Indira Gandhi (1917 – 1984) versucht mit allen Mitteln, ihr Land zu stabilisieren. Sie erlässt den Ausnahmezustand, mit erzwungenen Sterilisationen soll die Überbevölkerung eingedämmt werden. All dies bettet Mistry in seinen Roman ein, ohne den Leser zu schonen. Immer wieder thematisiert er durch das Leben seiner Protagonisten die politische und gesellschaftliche Ungerechtigkeit, die Macht von nur wenigen, die diese missbrauchen und mit aller Gewalt sichern wollen. Seine Botschaft ist nüchtern: Ein Aufstieg gelingt in diesen Jahren nicht durch Fleiß und ehrliche Arbeit. Dies erfahren Dina und ihre Schneider, aber auch die interessanten Menschen, denen sie begegnen, wie dem weisen Korrekturleser, dem Bettlermeister, der die Bettler beschützt, aber auch mit ihnen Gewinn erzielt, oder Shankar, dem Krüppel, der auf einer Plattform durch die Stadt fährt und um Almosen bittet.

Keine Figuren lebt nur durch ihren Namen, ihre Herkunft und ihre Handlung. Mistry, 1952 in Bombay geboren und heute in Kanada lebend, hat für jeden eine besondere Lebensgeschichte geschrieben, die eher von traurigen als von glücklichen Tagen zu berichten weiß, die er aber meisterhaft in seinem Epos verknüpft, so wie Dina ihre Patchwork-Decke aus verschieden farbigen Stoffresten zusammenfügt. Obwohl immer wieder ganz rührige und heitere Szenen dieses farbige, vor allem sinnliche Panorama-Gemälde Indiens erleuchtet, wird das Werk vor allem durch die erschütternden Geschehnisse gezeichnet. Gerade der Schluss erzeugt Bestürzung. Die Vergangenheit lässt die vier Hauptgestalten nicht los und zerreißt letztendlich den Kreis des wunderbaren Quartetts. Was zurückbleibt ist eine tiefe Spur von Trauer, aber auch die besondere Erkenntnis, dass Freundschaft, Zuneigung und Zusammenhalt für Sicherheit und eine Harmonie sorgen – wenn auch Dina, Maneck, Ishvar und Omprakash diese nur für kurze Zeit genießen konnten. Auch hier wird das Gleichgewicht der Welt, eine Symbol, das mehrmals im Roman Erwähnung findet, deutlich. Wie bedeutungsvoll dieses grandiose Meisterwerk ist, zeigen die besonderen Preise, mit denen Mistry dafür geehrt wurde: Er erhielt unter anderem den Giller-Award, den Kanadischen Staatspreis, den Commonwealth Writers Prize und den Buchpreis der Los Angeles Times.

Der Roman  „Das Gleichgewicht der Welt“ von Rohinton Mistry erschien im Fischer-Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Matthias Müller.
864 Seiten, 9,95 Euro

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