Zurückgezogen – David Shields und Shane Salerno „Salinger. Ein Leben“

„Ich glaube, irgendwann musst du herausfinden müssen, wo du hin willst. Und dann musst du auch da hingehen. Aber sofort. Du kannst es dir nicht leisten, auch nur einen Augenblick zu verlieren. Du nicht.“ („Der Fänger im Roggen“)

Salinger. Da war doch was. Englischunterricht bei Herrn Polke und dann diese Lektüre. „Der Fänger im Roggen“, besser gesagt. „The Catcher in the rye“. Und ist es nicht so, dass neben den guten und den schlechten Lehrern vor allem die Bücher, die man lesen musste, sich in das Gedächtnis eingeprägt haben? Der 1951 erschienene Roman „Der Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger (1919 – 2010) zählt da ganz gewiss dazu. Millionen von Jugendlichen haben ihn gelesen und geliebt. Seine Popularität besteht bis heute. Damit hat er einen Kultstatus erreicht, der nahezu ungebrochen ist und seinesgleichen sucht. Doch was wissen wir über den Autor selbst und die Entstehung des Romans? Sicherlich wenig. Wenn nicht in der derzeitigen Salinger-Begeisterung und unter den aktuellen Publikationen – so den beiden Romanen „Oona und Salinger“ von Frederic Beigbeder und „Lieber Mr. Salinger“ von Joanna Rakoff – auch eine bemerkenswerte Biografie heraussticht, die sich zum Ziel gesetzt hat, mit den Mythen und falschen Überlieferungen rund um die Person des Kultautors aufzuräumen.

Mit rund 700 Seiten Textumfang und einem umfangreichen Anhang kann „Salinger. Ein Leben“ der beiden amerikanischen Autoren David Shields und Shane Salerno durchaus als Backstein durchgehen. Doch wer glaubt, hier eine tröge und staubige Lebenserzählung vorzufinden, irrt gewaltig. Vielmehr wagt das Autoren-Duo ein interessantes Experiment, das für Spannung sorgt. In einer rund neunjährigen akribischen Recherche haben sie 200 Menschen ausfindig gemacht, die mit Salinger verbunden waren und haben sie interviewt. Von seiner Tochter Margaret sowie jungen Frauen, mit denen er Beziehungen geführt hatte, über Schriftsteller-Kollegen, Journalisten und Nachbarn bis hin zu Kameraden, mit denen er während des Zweiten Weltkriegs an der Front im Einsatz war. Es sind meist kurze Abschnitte, in denen sie zu Wort kommen, über ihre Begegnungen, Erlebnisse, über die Person Salingers und die Bedeutung und Wirkung seiner Werke berichten. Zwischendrin zeigen Fotos den Schriftsteller – einen überaus charismatisch wirkenden und attraktiven Mann – sowie jene Zeugen und Begleiter. Man hat dabei den Eindruck, als schaue man einen Dokumentarfilm, bei dem zwischen Interviews und kurzen Anmerkungen Filmaufnahmen eingeblendet werden. Auch die beiden Autoren werfen ihre Kommentare und Erklärungen in dieses bunte Stimmengemisch hinein, das mit Auszügen aus Werken und Briefen aus teils bislang nicht zugänglichen Quellen wie Prozess- und Militär-Akten bereichert wird.

Das erzählt von der Jugend Salinger, von dem gespaltenen Verhältnis zum Vater, der versuchten Abkehr von der guten Gesellschaft New Yorks, in der er aufgewachsen war. Später wird von der Zeit berichtet, in der sich Salinger mit dem Militär verbunden fühlte, nach dem Besuch der Militärakademie in die Armee eintrat, um an vorderster Front im Counter Intelligence Corps, der Spionage-Abwehr, zu kämpfen. Salinger erlebt und überlebt die Landung der Alliierten, den D-Day, die schrecklichen und menschenverzehrenden Kämpfe in Frankreich und Deutschland, und er zählt zu den ersten amerikanischen Soldaten, die das unermessliche Leid in einem Konzentrationslager zu Gesicht bekamen. Erlebnisse, die ihn tief geprägt haben und auch dazu führten, dass er sich Jahre später vollkommen zurückzieht, ein Einsiedler-Leben führt, sich seine eigene Welt aufbaut. Das Wort Traumatisierung fällt in diesem Zusammenhang sehr häufig.

„Seine Arbeit war seine karmische Pflicht. Seine Arbeit war alles, was er hatte. Seine Arbeit machte sein ganzes Wesen aus. So sehr konzentrierte er sich auf seine Arbeit. Ich meine damit, dass er als Romantiker begann und sich am Ende zurückzog. So sah ich es zumindest.“ (Jean Miller)

Schon als junger Mann schätzte er das Schreiben als Lebensinhalt. Sein Meisterwerk „Der Fänger im Roggen“ entstand zu großen Teilen im Krieg. Er kam nicht los vom Schreiben, wollte Autor werden. Seine erste Erzählung mit dem Titel „The Young Folks“ wurde veröffentlicht, da war er gerade mal 20 Jahre alt. Sein größter Wunsch, seine Texte in der über alles geliebten Zeitschrift „New Yorker“ veröffentlicht zu sehen, erfüllte sich schließlich. Doch dem einsetzenden Ruhm geht Salinger schließlich aus dem Weg. Ehen und Beziehungen scheitern. Er taucht unter, so dass Zeitungen schon „Kopfgeld“ für ein aktuellen Foto des Autors ausgeben. Wie schwierig es war, als treuer Fan oder Journalist mit ihm ins Gespräch zu kommen – auch davon ist in dieser wunderbaren Biografie zu lesen.

Salinger lebte fortan zurückgezogen, schrieb später nur für sich, veröffentlichte nichts mehr. Sein letztes Werk erschien 1965. Zu tief war er zudem versunken in der Welt seiner Geschöpfe, den Figuren rund um Holden Caulfield, die er in zahlreichen Kurzgeschichten lebendig werden ließ. Diese Biografie ist somit nicht nur ein Spiegel des Lebens und Schaffens Salingers. Sie taucht vielmehr tief in das Innenleben des Kultautors ein – der eine Obsession zu jungen Frauen hegte, sich von Kindern und Jugendlichen verstanden fühlte, das Establishment und die Heuchelei des Literatur- und Medienbetriebes verachtete und in der Spiritualität des Vedanta-Hinduismus einen Trost suchte und fand. 


Dieses dicke wie von Wissen nahezu strotzende Werk schafft es, nicht nur jene Fakten und Informationen auf besondere Art und Weise anschaulich zu vermitteln. Es berührt vor allem, Denn es erzählt von einem ungemein talentierten wie ehrgeizigen Menschen, der im Krieg die schlimmsten Erfahrungen machen musste, die ein Mensch jemals erleben kann. Der Band gelingt es, sowohl einen besonderen Menschen als auch eine ganze Zeit dank vieler Stimmen lebendig werden zu lassen.  Dahinter steckt eine Mammut-Leistung, die einen Riesen-Respekt abverlangt. Und die in einer Gestaltung dem Leser aufbereitet wird, die einen wahren Lesegenuss bereitet – und nicht nur durch die zahlreichen Fotos als kostbare Zeitzeugnisse. Ganz wunderbar ist die Auswahl des Papiers gelungen, das, seidenweich, immer wieder dazu einlädt, mit Ehrfurcht und Freude über die Seiten zu streichen.

Die Biografie „Salinger. Ein Leben“ von David Shields und Shane Salerno erschien im Droemer Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Yamin Rauch. 832 Seiten, 34 Euro

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