Zurück nach Fetknoppen – Leena Parkkinen „Die alte Dame, die ihren Hut nahm und untertauchte“

„Als junger Mensch bildete man sich ein, dass einem irgendwie die Zeit davonlaufe. Im Alter verstand man erst, dass außer Zeit nichts anderes mehr übrig war.“ 

Es gibt viele Orte, die bekannt dafür sind, die besondere Begegnung zweier Menschen zu fördern: der Supermarkt, eine Bar, ein Park, vielleicht auch ein Fußballspiel in einem Stadion. Im Fall von Karen und Azar ist es eine schnöde Tankstelle. Hier sehen sich die alte Dame und das 17-jährige Mädchen zum ersten Mal, wobei man an dieser Stelle unbedingt erwähnen sollte, dass Azar einen Überfall begehen will und Karen das Opfer ist. Doch die „kleine Gangsterbraut“ und ihr nicht gerade pfiffiger Mitganove haben die Rechnung ohne die Cleverness der alten und ebenfalls bewaffneten Frau gemacht. Karen verfrachtet die zudem hochschwangere Azar in ihr Auto, und zusammen gehen sie auf eine besondere Reise.

Wer nun glaubt, die Handlung geht ähnlich rasant und skurril weiter, den muss ich an dieser Stelle ein ganz klein wenig enttäuschen. In ihrem Roman „Die alte Dame, die ihren Hut nahm und untertauchte“ erzählt die Finnin Leena Parkkinen zwar zu Beginn von dieser ganz speziellen Begegnung. Doch ihr Buch ist weit mehr. Denn sie führt mit der 83-jährigeParkkinen_LDie_alte_Damedie_ihren_Hut_144943n Karen und der 17 Jahre alten Azar nicht nur zwei sehr verschiedene Generationen zusammen. Im Mittelpunkt stehen auch ihre unterschiedlichen Leben, vor allem Karens von tragischen Geschehnissen durchzogene Vergangenheit. Denn die Fahrt mit Azar zurück auf ihre Heimatinsel Fetknoppen ist auch eine Zeitreise. Zurück in die 40er Jahre, wo Karen selbst ein junges Mädchen ist und sie gemeinsam mit ihrem Vater und dem älteren Bruder Sebastian in einem weißen Haus wohnt. Die Mutter ist bereits verstorben, die Familie lebt zurückgezogen und gilt als Außenseiter. Vor allem Sebastian erscheint für die wenigen Einwohner des Eilandes eigenbrötlerisch, nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Dann geschieht ein entsetzlicher Mord: Karens Freundin Kersti wird erwürgt im Wasser aufgefunden. Sebastian gerät unter Verdacht.

Mit jedem Kapitel, mit jedem Blick zurück in Karens Jugend setzt sich das Bild ihres Lebens zusammen, das schließlich erklärt, warum sie noch einmal nach Fetknoppen gekommen ist. Sie will das Verbrechen aufklären, für das Sebastian unschuldig ins Gefängnis gekommen war, wo er sich das Leben nahm, und Karen stößt auf ein weiteres Geheimnis ihres früh verstorbenen Bruders, zu dem sie eine enge Bindung hatte. Doch dies ist nicht die einzige Lebensgeschichte, die der Leser erfährt. Auch von Azar und ihrer iranisch-stämmigen Familie wird berichtet:  Die Eltern leben getrennt, die Mutter ist zurück in den Iran, während der Vater gemeinsam mit seiner Tochter in Finnland geblieben ist. Es geht dabei vor allem um die Frage, welches Land die Heimat ist. Gerade die Liebe zu Mehran, der ebenfalls aus dem Iran stammt, lässt Azar über beide Kulturen nachdenken, obwohl sie das Heimatland ihrer Eltern noch nie gesehen hat. Kritisch rechnet die Autorin in dieser Facette ihres Romans mit der Feindseligkeit und unzähligen Klischees mancher Finnen gegenüber Migranten ab. Während zu Beginn der Reise zwischen Karen und Azar eine kühle Distanz herrschte, lernen sie sich näher kennen. Ihre wachsende Freundschaft wird jedoch auf eine Probe gestellt, als sie beide von der Vergangenheit eingeholt werden.

„Man muss die Dinge in dem Moment leben, da man es kann. Im Leben gibt es keine Wiederholungen.“

Als ich das Buch zum ersten Mal in einer Buchhandlung in der Hand hielt, dachte ich unweigerlich an den Bestseller „Der Hundertjährige, der aus dem  Fenster stieg und verschwand“ von Jonas Jonasson. Warum indes der Verlag bei dem Titel der deutschen Übersetzung von Leena Parkkinens Roman mit dieser Erwartungshaltung spielt, ist mir indes fraglich. Denn ihr Roman kann ohne Frage im Vergleich mit dem „Hundertjährigen“ bestehen, erscheint mir sogar um einiges komplexer und eindringlicher.

Das Werk der Finnin, die in ihrer Heimat bereits mit zwei Preisen geehrt wurde, lebt nicht nur von jenem besonderen Aufeinandertreffen zweier Generationen und jenen Erlebnissen des doch recht ungleichen „Oma-Enkelin-Duos“, sondern auch von einem wunderbar herzlichen Humor und herrlich lebendigen Dialogen. Das Buch widmet sich an vielen Stellen der Frage nach den persönlichen Erwartungen an das Leben, dem Lauf der Zeit sowie den schweren Momenten, die das Leben aus der Bahn werfen. Dabei entsteht ein eindrucksvoller Kontrast, trifft eine ernsthafte Melancholie und Weisheit auf Lebenslust und eine gewisse Unbekümmertheit. Diese beiden völlig verschiedenen Stimmungen in einer originellen Geschichte zusammenführen – dabei sind die Skandinavier, meiner Meinung, nach, unangefochtene Meister. Mit Karen und Azar hat Parkkinen zudem zwei Charaktere geschaffen, die mit ihrer Lebensgeschichte und ihrem ganz speziellen Wesen so schnell nicht vergessen werden.

Der Roman „Die alte Dame, die ihren Hut nahm und untertauchte“ von Leena Parkkinen erschien im Limes-Verlag, in der Übersetzung aus dem Finnischen von Peter Uhlmann; 384 Seiten, 18,99 Euro

Foto: Luise/pixelio.de

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