Mensch und Nichtmensch – Martin Walker „Germany 2064“

„Wir spielen Gott, indem wir empathische Wesen hervorbringen, mit denen wir Beziehungen eingehen und für die wir auch Zuneigung entwickeln können. Wir vertrauen ihnen unsere Kranken und unsere Alten an. Als deren Schöpfer tragen wir Verantwortung für sie.“

Der Blick in die Zukunft gleicht nicht der Tagträumerei. Wenn wir gut träumen, uns in Gedanken Wünsche erfüllen, hoffen wir vor allem. Dabei blenden wir aus, dass sich die Dinge anders, sich auch negativ entwickeln können. Martin Walkers Blick in die Zukunft in seinem neuesten Werk „Germany 2064“ hält befürchtete, aber auch überraschende Prognosen bereit – in einem Roman, der in einer spannenden Mischung Thriller und Prophezeiung vereint.  

Der 1947 geborene Schotte, einstige Politikjournalist und Schöpfer des Kommissars Bruno Courrèges ist zudem Mitglied eines Think Tanks, einer Denkfabrik der weltweit agierenden Beratergesellschaft A. T. Kearney. Die Zukunft ist sein Alltagsgeschäft, wenn er mit deutschen Unternehmern und Politikern über das Morgen diskutiert. Walker entwirft eine Szenerie 50 Jahre nach der Entstehung dieses Romans. 2064 ist Deutschland geteilt: Nicht in Ost oder West, Nord oder Süd. Vielmehr existieren moderne hochtechnisierte Städte neben den sogenannten Freien Gebieten; Landschaftsschutzgebiete, in denen nach den schweren Aufständen in den 2040er Jahren autonome kleinteilige Gesellschaften entstanden sind: Biohöfe, Klöster, Mittelalter-Gruppen oder Künstlerkolonien, die ohne moderne Technik auskommen und deren Mitglieder keine Steuer zahlen. Im Jahr 2064 gibt es in in nahezu jedem Lebensbereich Roboter sowie selbstfahrende Lastwagen, die in riesigen Kolonnen auf den Autobahnen unterwegs sind. Aus einem solchen Transporter, auf dem Weg zwischen den Niederlanden und Deutschland, wird Neobiotik gestohlen, Medikamente, die im Kampf gegen antibiotikaresistente Bakterien zum Einsatz kommen. Zeitgleich verschwindet die Sängerin Hati Boran spurlos. Sie ist die Schwester eines angesehenen Berliner Politikers und zugleich familiär verbunden mit dem amerikanischen Konzern Tangelo, einem erbitterten Gegner des deutschen Unternehmens Wendt.

Wendt hat sich auf die Entwicklung hochtechnisierter Roboter spezialisiert. Einer dieser Vertreter weiß der Polizist Bernd Aguilar an seiner Seite, der den Fall der verschwundenen Sängerin aufklären soll. Seinem Partner hat er passenderweise den Namen Roberto verpasst. Nach einem schweren Zwischenfall, bei dem Roberto Bernd das Leben gerettet hatte und zudem mit einem Update auf den neuesten Stand gebracht wurde, ist es ihr erster gemeinsamer Einsatz. Wenige Tage nach ihrem Verschwinden taucht die Sängerin wieder allerdings verletzt auf. In Verdacht steht Wendts Chauffeur, ebenfalls ein Roboter mit dem Namen Stirling, der plötzlich verschwunden ist. Doch nicht nur die modernen Helfer werden in Frage gestellt. Einige Politiker planen, die Freien Gebiete aufzulösen, da in ihnen mit den Jahren auch Kriminelle, ganze Banden mit Mafia-Strukturen Unterschlupf gefunden haben.


Walker beschreibt nicht nur sehr detailreich das moderne Leben, in dem die ständige Überwachung nicht mehr kritisch hinterfragt, sondern Normalität geworden ist. Faszinierend wird das Buch vor allem, wenn der Autor die Zukunft vor dem Auge des Lesers entstehen lässt: Die Globalisierung hat ein Ende gefunden. 3-D-Werkstätten haben den asiatischen Exportboom ausgebremst. Die erneuerbaren Energien haben die fossilen Brennstoffe den Rang abgelaufen. Das Weltall und seine Ressourcen werden genutzt. Die Menschen werden dank der Gesundheitsfürsorge und den Möglichkeiten der Medizin „steinalt“. Fred Wendt, der 112-jährig seinem Unternehmen vorsteht, ist da ein Paradebeispiel. Frauen haben mehr einflussreiche Posten in Politik und Wirtschaft als Männer. Afrika erlebt weiterhin Hunger und Kriege in unvorstellbarem Ausmaß, ohne dass die humanitäre und militärische Hilfe von außen Wirkung zeigt. All diese ganz verschiedenen Teile des Zukunftsszenarios beschreibt Walker in einem sehr nüchternen, sachlichen und nahezu unkommentierten Stil. Der Leser hat den Eindruck, als blickt der Erzähler von einer noch weiter entfernten Zukunft auf jene Jahre zurück. Aber auch Verbindungen zur heutigen Gegenwart und jüngsten Vergangenheit streut Walker immer wieder hinein: wie der Song der Toten Hosen „Tage wie diese“, der in Deutschland nach der gewonnenen Fußball-WM 2013 zu einer Hymne wurde, oder auch die Spionageaktivitäten der USA. Auch der Name der Kanzlerin Angela Merkel findet sich.

„Kunst sucht nach Nachhaltigkeit jenseits von Mäzenatentum. Sie lebt aus sich selbst und hungert lieber, wenn es sein muss, als sich anzubiedern. Echte Kunst, die zählt, ist immer revolutionär.“

Das große allumfassende Thema, das die Zukunftsvisionen mit der Kriminalgeschichte verbindet, ist die Frage nach der Beziehung zwischen Mensch und Roboter: Wie sollen letztere behandelt werden,  gibt es Grenzen in ihrer Entwicklung, was geschieht, wenn sie versagen. Doch während die Ausgestaltung der Zukunft Walker wunderbar gelingt und diese das Gedankenrad kräftig in Gang hält, bleibt die Krimi-Handlung doch etwas zurück, obwohl sie die Spannung durchaus zu halten vermag. Bis auf wenige Gestalten, wie der Polizist Bernd und sein Partner Roberto, der Politiker und einstige engagierte Journalist Hannes Molders oder eben der charismatische Wendt, bleiben die Figuren etwas hölzern. Auch wird zum Schluss die Geschichte allzu schnell aufgeklärt, so als ob der Autor etwas in Zeitnot war.

Trotzdem fesselt dieser Roman ungemein und vereint auf beeindruckende Weise unterhaltsame Spannung und eine Prise Humor mit einem thematischen Anspruch, der sich zudem mit zahlreichen Zitaten – realen sowie fiktiven – jeweils zum Beginn der Kapitel zeigt. Wer in der aktuellen Flüchtlingsthematik mit Blick auf die Entwicklung in Deutschland eine Antwort auf seine Fragen erhofft, wird  an einigen Stellen Gedankenanstöße erhalten. Einige der Charaktere haben ausländische Wurzeln und sich integriert. Gleichzeitig wird die ungehinderte Einwanderung anhand der entstandenen kriminellen Strukturen vor allem osteuropäischen Ursprungs kritisch betrachtet. Doch allgemeine Vorbehalte oder sogar rassistischen Hass gegen Menschen aus anderen Ländern scheint es im Jahr 2064 nicht (mehr) zu geben. Eine Zukunft, die ich sehr begrüße und erhoffe.

Der Roman „Germany 2064“ von Martin Walker erschien im Diogenes Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Michael Windgassen;  432 Seiten, 24 Euro.

8 Kommentare zu „Mensch und Nichtmensch – Martin Walker „Germany 2064“

  1. das wundert mich nun doch, da ich von Martin Walker sonst sehr wenig halte (für mich ist das eher ein rechtskonservativer Schreiberling, der halt das Genre Lokalkrimis einigermaßen beherrscht). Nun hat er mit diesem Roman offensichtlich ein ganz anderes, zugegeben spannend klingendes Thema gefunden. Vielleicht sollte ich mein (Vor-) urteil diesem Autor gegenüber überwinden und da mal reinlesen. Wenn du es so lobst, kann es ja nicht schlecht sein….

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    1. Vielen Dank, liebe Elvira, für den Kommentar. Es gibt allerdings Dinge an dem Buch, die ich kritisiert habe – das schnelle „Abspulen“ des Finales am Ende oder auch die Figurengestaltung. In diesem Roman zeigt sich Walker durchaus auch konservativ, vor allem was die kontrollierte Zuwanderung betrifft, die er erwähnt. Viele Grüße

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  2. Mir scheint der „Roman“ als Auftragswerk eines „Mäzens“ der in unserer „Jetztzeit“ die neoliberale Strategie weiter spinnt und Herr Walker meiner Meinung nach leider nicht etwas „Revolutionäres“ von sich gibt. Beratergesellschaft, „Think tank“ all diese nutzlosen und dennoch wirkmächtigen Institute hinter der Politik garnieren uns solche Produkte, Dystopien statt Utopien, andauernd und über unterschiedliche Medienstränge, sodass tatsächlich die Gefahr besteht, dass die Welt wirklich irgendwann so aussehen könnte.
    Mich hat das Auftragswerk nicht inspiriert und – wenn auch fiktiv – ein solcher Zukunftsentwurf ist für mich der Horror: Robokalypse, eine technisierte Lifestyle-Medizin, implantierte Chips, Massenüberwachung, Freihandelsabkommen mit den USA ( von Russland und China kommen „natürlich“ mafiöse Einflüsse ), „Friedenseinsätze“ etc. etc.
    Fazit: Viel Stereotypen im wahrsten Sinne, keine Literatur, sondern neoliberales Gedankengut in einem sog. „Zukunftsthriller“ verpackt.

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