Eiszeit – Lydia Tschukowskaja „Untertauchen“

„Poesie – das ist jenes geheimnisvolle Etwas, das bei der sorgfältigsten, der musikalischsten Übersetzung unübersetzbar bleibt. Wort und Rhythmus – das lässt sich übersetzen, aber wie übersetzt man die Spur im Schnee, die beseligende Wunde der Erinnerung?“

Wenn das Land zu einem Gefängnis, zu einem Ort der Gefahren wird, wohin flieht ein vom politischen System Verfolgter? Für die Autorin und Übersetzerin Nina Sergejewna bieten die Stille und die Sprache die Möglichkeit, schreckliche Geschehnisse für eine kurze Zeit zu vergessen und innerlich unterzutauchen. In einem Sanatorium nahe Moskau sucht sie in den Wintermonaten Ruhe und Einsamkeit. Nach und nach findet sie heraus, was mit ihrem Mann geschehen ist. Er soll nach seiner Verhaftung im Jahr 1937 in einem Lager gestorben sein. Vor mehr als zehn Jahren. Nähere Informationen zu seinem Verbleib hat sie nie erhalten.

Nina Sergejewna – das ist keine Geringere als die russische Autorin Lydia Tschukoswkaja. In ihrem autobiografisch gefärbten Roman „Untertauchen“, der, 1947 verfasst, erst 1972 außerhalb ihres Heimatlandes in einem New Yorker Verlag erscheinen konnte, verarbeitete sie ihre eigenen Erlebnisse des stalinistischen Terrors und das Schicksal ihres Mannes Matwei Bronstein (1906 – 1938), der als Physiker gewirkt hatte und nach seiner Verhaftung in einem Leningrader Gefängnis hingerichtet wurde. Die Behörden hatten ihr hingegen mitteilt, dass ihr Mann zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde.

Das Geschehen des Romans ist im Jahr 1949 angelegt und wird aus der Perspektive der Heldin erzählt. In den Wintermonaten Februar und März verbringt Nina mehrere Wochen in einem abgelegenen Sanatorium für Künstler einige Stunden von Moskau entfernt. Das Land liegt unter einer dicken Schneedecke, es herrscht eisige Kälte. Ein Birkenwald umgibt das Gelände, in dem Nina ausgedehnte Spaziergänge macht. Auf den ersten Blick Idylle pur, in der die Übersetzerin aufatmen könnte. Doch sie lernt den Schriftsteller Bilibin kennen, der fünf Jahre in einem Lager Zwangsarbeit leisten musste, später als Soldat an die Front geschickt wurde und von seinen Erlebnissen berichtet. Beide verspüren eine gegenseitige Anziehungskraft und Sympathie. Nina hofft, von Bilibin Informationen über ihren Mann zu erhalten. Auch zu dem Juden Weksler baut sie eine Bindung auf. Er gibt ihr im Vertrauen seine Texte zu lesen und zeigt ihr einen einstigen Kriegsschauplatz.

Doch auch außerhalb der Stadt auf dem Land  ist das stalinistische System aktiv. Eines Tages wird Weksler abgeholt, nachdem der Verlag, der seine Werke veröffentlicht hatte, „ausgemerzt“ wurde. Der staatstreue Journalist Sablin verteidigt hingegen die menschenverachtenden Maßnahmen der Diktatur, vor allem auch jene gegen Künstler des Landes, um „volksfeindliche Tätigkeiten“ auszuschalten. Nina beweist sich als Verfechterin von Wahrheit, Gerechtigkeit sowie Menschlichkeit und zeigt sich angewidert von den Heucheleien und Lügen, verteidigt Puschkin und Pasternak, deren Werke nicht den Vorstellungen des Regimes entsprechen,  und fühlt eine Schuld, noch am Leben zu sein. Albträume quälen sie. Als Bilibin seinen neuen Roman ihr zum Lesen gibt, muss sie jedoch schmerzlich erkennen, dass auch er trotz seiner entsetzlichen Erfahrungen zum Kreis der feigen Mitläufer zählt.

Poetische, an Märchen erinnerende Beschreibungen des winterlichen Waldes in all seiner Pracht – so tanzen in der fantasievollen Vorstellung der Autorin Birken einen Reigen – wechseln sich ab mit Rückblicken, in denen vor allem das Leid all jener beschrieben wird, die einen Angehörigen verloren haben. Kaum eine Familie blieb davon verschont. Vor allem eine Szene, eine Erinnerung Ninas, geht sehr unter die Haut und berührt: Eine Frau harrt in einer Menschenschlange vor der Kommandantur aus, um sich über ihren Mann zu informieren. In dieser Zeit stirbt das Kind auf ihrem Arm. Doch nicht nur der Schrecken des Stalinismus und die Vereinnahmung der Kultur sind die maßgeblichen Themen dieses beeindruckenden weil sprachlich meisterhaften Romans. Auch der  Zweite Weltkrieg und der nicht enden wollenden Judenhass, der weiterhin in der Bevölkerung zu finden ist, wird beschrieben. Eingebettet in den Prosa-Text sind mehrere  Gedichte von Pasternak, Puschkin und Blok, die von der Heldin zitiert neben der Schönheit der Natur ihr Halt geben sollen.

„Es war etwas Entsetzliches geschehen, aber ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, was es war. In mir lebte nur die Erinnerung an das ausgestandene Entsetzen, nicht an den eigentlichen Traum.“

Nach der Veröffentlichung dieses Romans außerhalb ihres Heimatlandes wurde Tschukowskaja aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen. In der aktuellen Ausgabe – in einem sehr liebevoll gestalteten Band vom Dörlemann Verlag herausgegeben – schließt sich an den Romantext neben einem Nachwort des Lektors und Publizisten Hans Jürgen Balmes die Rede der Autorin an, die sie nach ihrem Ausschluss vor dem Verband gehalten hatte. Darin erhebt sie schwere Vorwürfe. Gleichzeitig bemerkte sie, dass nicht die Partei oder ihre ausführenden Organe das letzte Worte haben: „Es gibt noch eine Instanz, die über Vergangenheit und Zukunft entscheidet: die Literaturgeschichte.“ Diese Rede war wenige Monate später in der russischsprachigen und seit 1947 in Paris erscheinenden Zeitschrift „Russischer Gedanke“ zu lesen.

Mehr als 40 Jahre nach seinem Erscheinen wird Tschukowskajas Roman, der erst Ende der 80er Jahre in der Sowjetunion veröffentlicht wurde, wieder in das öffentliche Bewusstsein gerückt; sowohl als literarisches Meisterwerk als auch herausragendes Zeitzeugnis. Innerhalb der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts sollte es deshalb einen besonderen Platz erhalten. Weil es Mahnung und Erinnerung zugleich ist und beweist, welche Macht die Sprache hat und welche Verantwortung dem Menschen damit zufällt. Dem Roman vorgestellt ist ein bemerkenswertes Zitat des großen Autors Leo Tolstoj: „Die Moralität des Menschen zeigt sich in seinem Verhältnis zum Wort.“ Doch nicht nur dieser Satz ist weise zu nennen. Denn Tschukowskajas Werk ist ein Schatz voller kluger Gedanken.

Der Roman „Untertauchen“ von Lydia Tschukowskaja erschien im Dörlemann-Verlag, aus dem Russischen übersetzt von Swetlana Geier und mit einem Nachwort von Hans Jürgen Balmes; 256 Seiten, 19 Euro

Foto: Rainer Sturm/pixelio.de

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