„Der Künstler streunt ziellos umher, wie ein herrenloser Hund, streift durch die Hinterhöfe der Zivilisation, sieht mit traurigen Augen der Menschheitskolonne nach und wartet darauf, dass einer ihn mitnimmt oder ihm einen Knochen hinwirft.“
Aufmerksamkeit ist wohl die höchste Währung in der Öffentlichkeit. Was mancher da auf sich nimmt, um gesehen und beachtet zu werden, ein besonderes Zeichen zu setzen, erscheint oft grotesk. Der eine macht’s mit seiner Kleidung, der andere mit Statussymbolen oder einer Tätowierung. André Nikolajewitsch Sperling, seines Zeichens Künstler aus Belarus, setzt sich einen speziellen Flohmarkt-Fund auf den Kopf und gerät nicht nur in so manche skurrile Szene. Er erfährt am eigenen Leib, wie es ist, gegen den Strom zu schwimmen.
André kauft auf einem Flohmarkt in Bonn eine preußische Pickelhaube – mit dem Geld, das er eigentlich von Frau und Schwiegermutter erhalten hat, um Geschenke zu besorgen und vor allem Stiefel zu kaufen. Haube und Künstler sind fortan unzertrennlich. Der verrückte wie wilde Road-Trip aus der Feder des Minsker Schriftstellers und Architekten Artur Klinau mit dem Titel „Schalom“ kann somit beginnen. Doch die militärische Kopfbedeckung mit der bekannten Spitze und zweier Löwen als Zierde ist nicht nur ein heutzutage Aufmerksamkeit erregender Schmuck. André will ein Zeichen setzen: die Haube als ein erhobener Mittelfinger in Richtung Welt. Denn die bereitet ihm in ihrem aktuellen Zustand erhebliche Sorgen und Zweifel am Verstand der Menschen. Nicht nur ist er ziemlich genervt von seiner Schwiegermutter und seiner Ehefrau Sweta. Als Künstler – André ist vor allem „bekannt“ durch seine Skulpturen aus Stroh – fühlt er sich wenig akzeptiert und der Ruhm hat auch noch nicht mit einem Sack voller Gold an seine Tür geklopft – obwohl ihn eben eine Ausstellung nach Deutschland gerufen hat. Seinen Frust ertränkt er im Alkohol, keine Flasche Whisky oder Wodka ist vor ihm sicher, im Übrigen auch keine Vertreterin des weiblichen Geschlechts. André trinkt und baggert die Frauen ohne Gewissensbisse an.
Nach Bonn legt André in Hannover einen Zwischenstopp ein, um schließlich weiter nach Berlin zu reisen; mit Ingrid im Schlepptau, die kurzerhand ihren Freund und die gemeinsame Wohnung verlassen hat. In der Bundeshauptstadt besucht er Freunde, die sich in der Künstlerszene Tacheles, einem Zusammenschluss osteuropäischer Künstler, bewegen. Auch hier fließt reichlich Alkohol. Um wieder etwas finanziell flüssig zu werden, planen André und seinen beiden Künstler-Kumpels Fjodor und Bujan auf der Straße eine Szene als Bettlergruppe aufzuführen. Die kritische Weltsicht des Pickelhauben-Trägers wird dabei zeitgleich unter die Menschen gebracht. Doch die verrückt-verwegene Gruppe trifft auf Nazis. Es kommt zu einer Schlägerei, bei der André glaubt, einen der aggressiven Typen getötet zu haben. Er flieht daraufhin Hals über Kopf aus Berlin, kehrt über Warschau, Brest und Minsk in seine Heimatstadt Mogiljow in der belarussischen Provinz zurück.
„Wenn du ihn jetzt absetzt, dann bist du wirklich ein Idiot! Du bist ein Künstler! Erkläre der Welt dein Manifest! Mach den Helm zum Projekt! Aufstand! Revolution! Der Helm-Mensch! Darauf ist noch niemand gekommen!“
Der Roman ist nicht nur von teils sehr skurrilen Szenen, von seiner Situationskomik und den witzigen Dialogen, Traumsequenzen und Gedankenströmen des Helden geprägt. „Schalom“- das Wort bedeutet im Belarussischen Kriegerhelm – ist vor allem kluge und vielschichtige Kunst- und Gesellschaftskritik, ohne dass diese wegen des Humors verblasst und an Schärfe verliert. Der Kunstwelt, in der manche Künstler unfassbare Summen für ihre Werke erzielen, während andere nicht minder begabte nahezu am Hungertuch nagen, wird der Spiegel vorgehalten. André ist womöglich selbst ein moderner Till Eulenspiegel, der seine biederen Zeitgenossen zum Narren hält. Auch das schwierige Verhältnis zwischen Ost und West, der oft abschätzige Blick des modernen Westens auf Osteuropa spielt eine nicht unerhebliche Rolle. Herrlich wie André seine Heimat mit dem düsteren Mordor aus Tolkiens „Herr der Ringe“ vergleicht, indem die “ herrschenden Orks die armen Hobbits zur Schnecke machten und ihre Rechte beschnitten, wo sie nur konnten“. In einem Interview im Osteuropa-Magazin „Ostpol“ spricht Klinau, 1965 in Minsk geboren, über das reale Erlebnis auf einem Bonner Flohmarkt, das Eingang in seinen Roman gefunden hat, sowie über sein Heimatland. Klinau ist selbst Herausgeber einer Zeitschrift – des Kunstmagazins „pARTisan“.
Wer „Schalom“ liest, wird einen herrlichen Spaß haben, in der einen oder anderen Szene vor Vergnügen schmunzeln, vielleicht sogar leise glucksen. Vorausgesetzt der Leser bringt etwas Toleranz auf für den allzu häufigen Alkoholkonsum. Gleichzeitig wird er in einer gewissen Nachdenklichkeit verharren. Denn die ernste Lage des verrückten wie tapferen Helden entwickelt sich zunehmend zu einer gewissen Bedrohung. Dass es Klinau gelingt, Ernst und Humor in einem quirligen Roman zusammenzuführen, beweist dessen meisterhafte Fähigkeiten. Eine Fortsetzung des Buches, das mit einer nahezu irrsinnigen Szene endet, würde sicherlich viele freuen. Denn das Leben des Rebellen André schreit förmlich nach neuen Abenteuern.
„Muromez“, Ilja Regier“ hat auch eine Besprechung zum Roman geschrieben.
Der Roman „Schalom“ von Artur Klinau erschien im Verlag edition.fotoTAPETA, in der Übersetzung aus dem Russischen von Thomas Weiler; 272 Seiten, 16,80 Euro
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Ein Kommentar zu „Kunst und Krempel – Artur Klinau „Schalom““