Spuren – Christoph Poschenrieder „Das Sandkorn“

„Viele werden zum Treibgut; indem sie mittreiben, spüren sie am wenigsten Widerstand.“

Es gibt Bücher, die verlangen nach dem richtigen Moment. Wenn der noch nicht gekommen oder bereits vergangen ist, kann es geschehen, dass das Buch in Vergessenheit gerät. „Das Sandkorn“ von Christoph Poschenrieder ist so ein Buch. Ich kaufte es im vergangenen Frühjahr auf der Leipziger Buchmesse, las es an und legte es wieder weg. 

Mittlerweile haben sich andere Romane vorgedrängt, sich über das Buch sogar ein kleiner Stapel gebildet. Doch nun kam jener gewisse Moment, wie gesagt: der richtige. Ich grub den Roman aus und war fasziniert – diesmal bis zum traurigen Ende, das mich sehr berührt hat. Dabei ist das Werk des in den USA geborenen und heute in München lebenden Journalisten und Autors ein an vielen Stellen und in vielen Szenen sehr heiteres, ja komisches, obwohl es im wahren Kern ein großes Stück Tragik enthält.

Im Mittelpunkt steht der Kunsthistoriker Jacob Tolmeyn. Der im Sommer 1915 auf einer Berliner Wache Kommissar Franz von Treptow seine besondere Geschichte erzählt. Tolmeyn wurde von der Polizei aufgegriffen, weil er auf dem Bürgersteig aus kleinen Säckchen Sand verstreut hatte und damit den Eindruck eines Irren machte. Der Sand stammte aus Apulien, wohin der Wissenschaftler und dritte Sekretär des Königlich Preußischen Historischen Instituts in  Rom dreimal entsendet worden war. Seine Aufgabe: his978-3-257-06886-3torische Stätten aus der Zeit des Staufer-Kaisers Friedrich II. (1194-1250) zu erforschen.  Doch der Zeitpunkt für die Reisen könnte nicht ungünstiger sein. In  Europa rasseln die Länder mit ihren Säbeln. Nach dem Attentat auf den Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand,  am 28. Juni 1914 in Sarajevo herrscht Kriegsstimmung, die Welt steht am Abgrund. Wenige Wochen später soll es zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges kommen. Trotzdem gelingt es dem Kunsthistoriker, mit seinem Begleiter Beat Imboden, einem Schweizer, mehrere Orte zu besuchen und wertvolle Informationen zu sammeln. Beide, ausgerüstet mit reichlich Technik, kartieren und fotografieren historische Denkmäler. Sie kommen in überaus idyllische Orte mit klingenden Namen, die jedoch trotz dieses geschichtlichen Erbes Ausdruck der Armut und Rückständigkeit dieser Region im Süden des Stiefels sind. Auch nach Jahrhunderten ist der Geist des Staufer-Kaisers unvergessen, sehnen sich die Menschen nach einem richtigen Herrscher.

Auf Tolmeyn liegt in jenen Wochen und Monaten nicht nur der Druck angesichts der weltpolitischen Lage. Er war aus Berlin regelrecht nach Italien geflohen. Der Wissenschaftler fühlt sich zu Männern hingezogen – in einer Zeit, in der mit dem Paragrafen 175  Homosexuelle strafrechtlich verfolgt wurden und die Harden-Eulenburg-Affäre für Unruhe in den Kreisen sorgte. Außerdem fühlt er sich schuldig am möglicherweise tödlichen Unfall eines einstigen Liebhabers, dem er aus dem Weg gehen wollte. Beide waren jedoch während eines kurzen Aufenthaltes Tolmeyns in Berlin jedoch aufeinandergetroffen, wobei die Situation an einem Abend nahe des Landwehr-Kanals eskaliert war. Während der Forschungsreisen werden schließlich Tolmeyn und Imboden zu engen Vertrauten. Ein glückliches Ende sollte dieser besonderen Verbindung indes nicht vergönnt sein. Zu vieles drängt sich dazwischen: die fehlende Kommunikation zwischen den Männern, die charmante und hübsche Letizia, die im Auftrag des italienischen Kultusministeriums das Duo begleitet, und schließlich auch der Krieg, dem Tolmeyn, der dank des Einflusses seines Vorgesetzten Stammschröer vor einer Einberufung zuerst geschützt war, am Ende nicht mehr ausweichen kann.

„(…) aber morgen früh wird er sich eine Handvoll Sand mitnehmen, denn der Sand saugt alles Mögliche auf, was er – vielleicht, nähere Studien werden es zeigen – später wieder abgibt.“

Um dem Leser diese vielschichtige Geschichte zu präsentieren, lässt Poschenrieder mehrere Stimmen sprechen; einen allwissenden Erzähler sowie den Berliner Kommissar, der die Geschehnisse aus seiner Sicht mit Hilfe seines Tagesbuchs schildert. Zudem finden sich neben Auszügen aus Briefen immer wieder Tolmeyns Gedanken und Kommentare zu seinen Erlebnissen. Oft sind diese von einem tiefsinnigen Humor gezeichnet, der trotz der ernsten Lage der Protagonisten für eine unvergleichliche Erheiterung sorgt. Vor allem die typisch preußischen Eigenschaften werden oft aus Korn genommen. Sprachlich bewegt sich Poschenrieder auf einem hohen Niveau. Es liegt ein besonderer Rhythmus, ein besonderer Fluss in dieser Erzählung, der den Leser nicht nur die Schönheiten Unteritaliens vor Augen führt, sondern auch den Wahnsinn des Krieges. „Das Sandkorn“ ist deshalb vor allem ein Buch der Kontraste: Die Gegenwart trifft auf die Geschichte des Mittelalters, das Flair der Metropole Berlins auf die ländliche Idylle, die wiederum der Bedrohung des Krieges gegenübersteht. Und dann ist da noch der Sand, in dem Tolmeyn mit Hilfe eines Mikroskopes zwar ganze Welten und faszinierende Formen erkennt, das Sandkorn jedoch winzig gegenüber der großen Weltpolitik erscheint.

Die besondere Geschichte Tolmeyns hat indes einen realen Hintergrund, den Poschenrieder in einem Nachwort erwähnt. Zwei Kunsthistoriker, Arthur Haseloff und Martin Wackernagel, bereisten im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Unteritalien, um die Bauten aus der Zeit Friedrichs II. zu erforschen. Und auch die Person des Kommissars von Treptow ist verbürgt – unter dem Namen Hans von Tresckow, der in den letzten Jahren des deutschen Kaiserreichs das Erpresser-Dezernat im Berliner Polizeipräsidium geleitet und sich für eine Abschaffung des Paragrafen 175 eingesetzt hat, der im Übrigen erst 1994 aus dem Strafgesetzbuch vollständig gestrichen wurde.

Meine erste Begegnung mit Poschenrieder – für mich eine Entdeckung – wird garantiert nicht die letzte sein. Ganz im Gegenteil. Nach seinem Roman „Das Sandkorn“ werde ich sicherlich bald ein weiteres lesen und bin sehr dankbar, dass der richtige Moment für dieses Buch gekommen war.

Der Roman „Das Sandkorn“ von Christoph Poschenrieder erschien bereits als Taschenbuch im Diogenes Verlag;  416 Seiten, 12,90 Euro

5 Kommentare zu „Spuren – Christoph Poschenrieder „Das Sandkorn“

  1. Liebe Constanze, dieses Buch ist ein Meisterwerk. Alleine die Konzeption ist großartig – der Schluss, den Du traurig nennst, der einzig wahre. Mich hat die Sprache, der Stil, das Gesamtkunstwerk des Sandkorns völlig umgehauen. Schön, dass Du es noch einmal zur Hand genommen hast, denn ansonsten wäre Dir – meiner Meinung nach – ein großartiges Stück Literatur entgangen ;)
    Liebe Grüße, Bri

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    1. Es ist schön, wenn mehrere Leser die Begeisterung für ein Buch teilen. Deshalb vielen Dank für Deinen Kommentar, der mich sehr gefreut hat. Habe mir gleich ein nächstes Buch des Autors auf die Leseliste gesetzt. Viele Grüße

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