Heimatlos – Ulrike Draesner „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“

„Wir hatten ein Kind verloren, das Erbe verloren, alle Gräber, ein Stück unserer selbst, die Verbindung zu unserer Vergangenheit, die Verankerung in Besitz und Beständigkeit, das Vertrauen, da sein zu dürfen.“

Weder persönliche Erinnerungen noch statistische Zahlen können das Ausmaß erfassen, als Millionen Menschen am Ende des Zweiten Weltkriegs Flucht und Vertreibung erleben. Sie werden zu Heimatlosen, die ihr früheres Leben zurücklassen und nie wieder Wurzeln schlagen werden. Selbst die folgenden Generationen sind gezeichnet. Ulrike Draesner hat mit ihrem Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ jenen Familien eine Stimme gegeben.

162_71320_158463_xxlDas Thema Flucht und Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten ist in den vergangenen Jahren wieder verstärkt in den Mittelpunkt gerückt. Auch als Ergebnis der weiteren intensiven Aufarbeitung der NS-Zeit.  Die Vertriebenen haben nicht nur ihre Heimat hinter sich gelassen. Sie zählen zu jenen Zeugen, die das ganze Ausmaß der schrecklichen Folgen von Krieg und Gewalt auf besondere Weise erlebt haben. Vom Hunger und der Zerstörung von Städten und ganzen Landstrichen bis hin zur Todesgefahr. In ihrem Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ lässt Ulrike Draesner die Geschichte von zwei Familien und vier Generationen aus acht verschiedenen Perspektiven erzählen. Da sind die Grolmanns: Mutter Lilly macht sich im Januar 1945 nach dem Befehl des niederschlesischen Gauleiters Hanke mit den beiden Söhnen Eustachius und Emil aus ihrem schlesischen Heimatort auf den Weg in den Westen. Der Vater Hannes wurde zuvor für das letzte Aufgebot, den Volkssturm aus Jungen und Alten, eingezogen und kommt später in russische Kriegsgefangenschaft.  Mit der Flucht der deutschen Familien und dem Näherrücken der russischen Armee ziehen hingegen polnische Familien vom Osten des Landes in die einstigen deutschen Gebiete. So kommt auch die junge Halka mit ihren Eltern in das nahezu völlig zerstörte Breslau, dem späteren Wroclaw. Ihr Sohn Boris wird mehr als sechs Jahrzehnte später Simone, die Tochter von Eustachius, kennenlernen.

Beide sind erfolgreich und engagiert in ihrem Beruf: Er arbeitet als Psychologe. Sein Fachgebiet sind die Traumatisierung und die innere Verletzung der Vertriebenen, vor allem der Kriegskinder, sowie nachfolgender Generationen. Sie ist indessen in die Fußstapfen ihres Vaters getreten, der sich als renommierter Wissenschaftler dem Verhalten der Menschenaffen widmet. Selbst im hohen Alter von weit über 80 Jahren und nicht immer mit legalen Methoden forscht Eustachius in seinem Haus mit zwei Bonobos. Während er von seiner Frau, der Mutter von Simone, einst verlassen wurde, herrschen auch in der Familie seiner Tochter erhebliche Spannungen, die ihren Höhepunkt erreichen, als Simone mit Boris ein Verhältnis beginnt und ihr Mann John erwägt, seine Frau und die gemeinsame Tochter Esther zu verlassen.  Neben diesen familiären Geschehnissen und zwischenmenschlichen Gefühlen lässt die Autorin mit Hannes und Lilly, Eustachius‘ Vater und Mutter, sowie der Mutter von Boris, Halka, die Zeugen der Flucht erzählen. Eine Lektüre, die sehr aufreibt und ergreifend ist. Mit diesen Rückblicken entsteht ein düsteres und schreckliches Panorama der letzten Kriegsmonate. Es gibt Massenselbstmorde von Familien, Hinrichtungen von Soldaten, sowohl der Strom der Flüchtlingen als auch Städte, in denen kein Stein auf dem anderen bleibt, werden von Fliegern beschossen beziehungsweise flächendeckend bombardiert. Es herrschen Hunger, Not und Gewalt. Zwischen Leben und Tod existiert nur ein schmaler Grat. Mit der Person Emils wird ein weiteres ernstes Thema beschrieben: Emil ist geistig und körperlich behindert. Seine Eltern versuchen, ihn vor den menschenverachtenden Maßnahmen der Euthanasie zu beschützen. Auf der Flucht jedoch geht Emil in Thüringen „verloren“, wobei sein jüngerer Bruder, der als Kind die nationalsozialistische Propaganda verinnerlicht hat, dabei nicht unschuldig ist.

„All die Söhne und Töchter fielen mir ein, die nie gezeugt worden waren, weil ihre Väter im Großen Krieg starben, und bevor ich mir noch ausmalte, wie die Zukunft, unserer Gegenwart, geworden wäre, hätten sie gelebt, eine Gegenwart mit anderen Menschen, rief ich mich zur Ordnung, es war zu abstrakt und zu traurig und vielleicht auch gefährlich, so zu denken (…).“

Dem Thema Flucht, Vertreibung und Krieg setzt die Autorin mit der Forschung zum Verhalten der Menschenaffen ein nicht minder spannendes gegenüber, das im ersten Moment nicht ganz in diesen geschichtlichen Rahmen zu passen und in manchen Szenen sogar skurril erscheint. So steht eines Tages die Polizei vor der Tür von Eustachius‘ Haus, der zudem sonderbare Experimente an sich selbst durchführt und Gast einer Talkshow wird. Doch die Forschungen des kauzigen Wissenschaftlers und seiner Tochter beschäftigen sich mit einer ganz besonderen Frage: Wie konditionieren sich aggressives Verhalten und Gewalt? Gibt es gar rein physiologische Gründe? Lassen sich durch die nahe Verwandschaft von Menschenaffe und Mensch auch wichtige Rückschlüsse ziehen? Ulrike Draesner hat für ihr Werk, mit dem sie 2014 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gestanden hat, aufwendige Recherchen betrieben. Auf der Internetseite, die das Buch begleitet, werden interessante Quellen benannt. Dabei verweist sie auch auf ihre eigene Familie, die selbst schlesische Wurzeln hat.

„Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ ist kein einfach zu lesender Roman. Das liegt nicht nur in der ernsten Thematik des Buches sowie den entsetzlichen Kriegsszenen, die menschliche Grausamkeit in all ihren Formen vor Augen führen, begründet. Vor allem stilistisch lässt Draesner Grenzen hinter sich und fordert den Leser heraus. Ihre Prosa ist poetisch, erinnert an einigen Stellen an prosahafte Gedichte mit Satzfragmenten und Zeilensprüngen. Ihre Sprache ist zudem von einem faszinierenden Wortreichtum und ungewöhnlichen Beschreibungen gekennzeichnet. Ein Stil, an den der Leser sich wie bei einem etwas kratzenden Pullover erst gewöhnen muss. Wer indes mit Geduld und Konzentration in diesen ganz speziellen und mehrstimmigen Erzählstrom hineinfindet, wird belohnt. Denn der Roman sticht aus der Masse der literarischen Werke als Zeugnis jener Jahre deutlich heraus. Mit Blick auf die Gegenwart trägt er dabei durchaus auch aktuelle Bezüge in sich. Denn die damaligen Flüchtlinge haben nicht nur die leidvolle Erfahrung der Heimatlosigkeit gemacht. Sie mussten des Weiteren miterleben, wie entsetzlich es ist, in der neuen heimatlichen Fremde unerwünscht zu sein.

Weitere Besprechungen des Romans gibt es bei „54books.de“ sowie bei „Literaturen“

Der Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ von Ulrike Draesner erschien als gebundene Ausgabe im Luchterhand Verlag, als Taschenbuch im btb-Verlag; 560 Seiten, 11,99 Euro

7 Kommentare zu „Heimatlos – Ulrike Draesner „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“

    1. Danke für Deinen Kommentar, Marina. Ja, es war schon eine Herausforderung, aber wenn Du bereits mit der Sprache der Autorin vertraut bist, könnte der Roman wirklich etwas für Dich sein. Die Themen interessieren mich sehr. Meine Familie stammt selbst aus zwei Ländern, meine Großmutter kam aus Norwegen nach Deutschland. Sie hat, da in der DDR lebend, nie mehr die Möglichkeit bekommen, ihre Heimat wiederzusehen. Das treibt mich seit einiger Zeit um. Viele Grüße

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  1. Liebe Constanze,
    ich habe den Roman schon 2014 gelesen, aber mir sind immer noch viele der Fluchtszenen ganz präsent. So finde ich auch den Teil des Romans sehr stark, der die beiden Fluchtbwegungen beschreibt: die Deutschen, die nach Westen ziehen und denen dann ganz unmittelbar die polnischen Flüchtlinge, die selbst auch auf dem Weg nach Westen sind, nachfolgen, die quasi abends in die morgens freigewordenen Wohnungen einziehen. Ich habe mir damals auch lange die Karten angeschaut, um diese Fluchtbewegungen – und die nachfolgenden neuen Grenzziehungen, die ja wieder zu weiteren Verfolgungen und Ausgrenzungen geführt haben – nachzuvollziehen. Vieles davon, der Ukraine-Konflikt zum Beispiel, beschäftigt uns ja auch noch heute. Und die Geschichten, die individuellen Geschichten der Flucht, die sind einfach unheimlich plastisch und anschaulich erzählt, die bekommt man so schnell nicht wieder aus dem Kopf. Der heutige Teil dagegen, abgesehen von den Bereichen, die mit Boris verknüpft sind und sich mit der Traumabewältigung beschäftigen, haben mich dagegen nicht ganz so nachhaltig bewegt. – Wie schön, nun durch Deine Besprechung noch einmal in Ulrike Draesners Roman einzutauchen.
    Viele Grüße, Claudia

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    1. vielen Dank für den ausführlichen Kommentar, Claudia. Ja, die Flucht- und Kriegsszenen waren sicher jene, die einen während der Lektüre besonders ergreifen. Ich fand auch das Forschungsthema sehr spannend und war faszinierend von Draesners Sprache, auch wenn diese nicht einfach zu lesen und zu verstehen war. Aber ich mag Herausforderungen. Viele Grüße

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