Literatur mit Wert vereint das Besondere mit dem Allgemeinen. Sie erzählt eine erstaunliche Geschichte, die über sich hinausweist – in ihrer Allgemeingültigkeit. Selbst wenn im Roman „Broken Hill“ des englischen Autors Nicholas Shakespeare die Jahre 1914 und 1915 beschrieben werden, hätte das Geschehen auch in unseren Tagen handeln können, in denen Fremden- und Islamfeindlichkeit mehr denn je spürbar sind und die Frage entsteht, ob Demütigungen und Erniedrigungen nicht zu fürchterlichen Ereignissen führen können.
Eine reale Begebenheit bildet die Vorlage für Shakespeares neuestes Werk: Am Neujahrstag 1915 beschießen zwei Männer einen Zug nahe des australischen Städtchens Broken Hill. Die Fahrgäste sind auf dem Weg zum traditionellen Neujahrs-Picknick. Die beiden Täter stammen aus Britisch-Indien, jenem Teil, der das heutige Pakistan umfasst. Der Autor nennt sie Gül Mehmet und Molla Abdullah. Der jüngere Mann hält sich nach diversen und eher erfolglosen Jobs als Eisverkäufer über Wasser, der ältere Mann ist als Schlachter tätig und zugleich der Imam der muslimischen Gemeinde, die im sogenannten Camel Camp, einer Siedlung mit rund 30 Bewohnern aus Afghanistan und Indien, in ärmlichen Wellblechhütten lebt. Das Verhältnis zwischen den einheimischen Australiern und der muslimischen Gemeinde ist angespannt und hasserfüllt. Vorurteile und Gerüchte kursieren. Die Einwanderer mit ihrer anderen Religion, ihrem fremd erscheinenden Äußeren werden mit Skepsis betrachtet und sind Schikanen ausgesetzt, obwohl sie schon seit einigen Jahren im Land leben. Die Stimmung der hiesigen Bevölkerung von Broken Hill ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Die Wirtschaft liegt am Boden. Die Erzminen der Kleinstadt finden weniger Absatzmöglichkeiten, da unter anderem Deutschland die umfangreichen Exporte infolge des Weltkrieges eingestellt hat. Zahlreiche Männer aus der Stadt haben sich als Soldaten verpflichten lassen, um gegen die Türken zu kämpfen.
Vor allem der neu ernannte Gesundheitsinspektor Clarence Dowter hat Gül und Molla wegen angeblicher Gesetzesverstöße im Visier. So hat Molla Tiere außerhalb des Schlachthofs nach muslimischer Weise getötet – wie er es schon seit Jahren pflegt. Doch Dowter verlangt, dass dies im Schlachthof geschehen soll, selbst wenn vor Ort auch Schweine geschlachtet werden und dies gegen die muslimischen Gebote verstößt. Der Inspektor verurteilt den Metzger zu einer Geldstrafe, die dieser jedoch nicht zahlen kann. Eine Gefängnisstrafe droht. Molla sieht nur einen Ausweg – sich zu wehren. In diese Zeit der Spannungen webt Shakespeare sowohl eine Familien- als auch eine Liebesgeschichte hinein. Im Mittelpunkt stehen die Filwells, allen voran Rosalind, die Tochter des Ehepaars. Die junge Frau arbeitet in einem Textil-Geschäft. Sie steht kurz vor der Verlobung mit Oliver, dem Neffe Dowters. Begegnungen mit Gül wecken indes ihre Gefühle für den Eisverkäufer. Sie träumt von einem anderen Leben und der großen verlockenden Welt, die hinter den Grenzen der überschaubaren Provinzstadt wartet. Ihre Gedanken lenken sie ab – von der Tristesse des Alltags, den tragischen Geschehnissen, die ihre Familie in der Vergangenheit heimgesucht haben.
„Kurz vor fünf Uhr früh kletterte Allahs zweiköpfige Armee auf Güls Eiswagen und fuhr, gezogen von seinem rotbraunen Pferd, aus Ghantown die Rakow Street hinunter und weiter entlang der Eisenbahnlinie in Richtung Silverton, um Australien den Krieg zu erklären.“
Doch ein Happy End gibt es nicht, eher sind es Wehmut und Trauer, die während der Lektüre und vor allem nach einem Schock-Moment entstehen. Die Vorfreude sowie die Lebenslust im Zug auf dem Weg zum Neujahrs-Picknick, mit dem der Roman beginnt, sind nur Kontrast zum späteren Gewaltausbruch, mit dem keiner gerechnet hat. Wohl kaum einer konnte erahnen, dass nur zwei Männer einen chancenlosen Angriff wagen würden – unter der türkischen Flagge und der vermeintlichen Obhut Allahs. Mehrere Fahrgäste werden getötet, und es ist nur der Beginn eines folgenden Gemetzels und das entsetzliche Ende vieler Hoffnungen.
Der Roman „Broken Hill“ von Nicholas Shakespeare erschien im Verlag Hoffmann und Campe, in der Übersetzung aus dem Englischen von Georg Deggerich; 128 Seiten, 18 Euro
Foto: Conollyb at English Wikipedia
Liebe Constanze,
toller Buchtipp, danke dafür.
Liebe Grüße,
Heike
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Sehr gern geschehen, liebe Heike. Und ich habe zu danken für Deinen Kommentar. Viele Grüße
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Vielen Dank, Constanze, für eine wieder sehr gelungene, komprimierte und sprachliche exzellente Buchvorstellung. Wahrscheinlich bezieht sich Shakespeare’s Gesellschaftskritik indirekt auch auf die Australier, die eine radikale Asylpolitik verfolgen. Stichwort ‚Sovereign Borders‘. Ich nehme an, unter anderem soll Deutschland in diesem Punkt als stellvertretender Angeklagter fungieren.
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vielen Dank für den Kommentar, das Lob und die interessanten Gedanken. Das Buch bietet wirklich sehr viel Gelegenheit, um über dieses wichtige Thema zu diskutieren, sowohl mit Blick auf die Geschichte als auch mit Blick auf die Gegenwart. Viele Grüße
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Liebe Constanze,
ein Buch, das sehr nachdenklich macht. Es ist eben doch schon vieles dagewessen, wenn manchmal auch unter anderem Background. Vielen Dank für den Tipp und viele Grüße von Gisela von die Vorleser
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