„Wir spüren jetzt nichts, in uns ist nur noch Staub geblieben.“
Romane über totalitäre Regime haben immer wieder etwas Beängstigendes an sich. Im Gegensatz zu Dystopien, die bisher glücklicherweise nur auf der Einbildungskraft des jeweiligen Autoren basieren, können Bücher über Menschen und Geschehnisse in jenem politischen Herrschaftssystem auf die vergangene und leider auch jetzige Realität zurückgreifen. Der Roman „Die Baugrube“ des russischen Schriftstellers Andrej Platonow (1899 – 1951) erzählt eine nahezu kafkaeske Geschichte, die 1929 und 1930 entstanden ist, acht Jahre nachdem Josef Stalin (1878 – 1953) die Macht ergriffen hatte.
Dass der Mensch in einer Diktatur kein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben hat, er sich vielmehr als Teil der Gemeinschaft unterordnen muss, um nicht ausgestoßen, gar vernichtet zu werden, wird schon auf den ersten Seiten des Romans allzu deutlich. Der 30 Jahre alte Protagonist Woschtschew verliert seine Arbeit in einer kleinen Maschinenfabrik. Als Entlassungsgrund werden seine fehlende Kraft und seine Nachdenklichkeit genannt, rundum er taugt nicht, um die Produktion zu unterstützen, damit der Plan erfüllt wird. Der Mann begibt sich daraufhin auf Wanderschaft und trifft nahe der Stadt in einer Schlucht auf eine Baugrube, an der mehrere Männer im Einsatz sind. An dieser Stelle soll ein „gemeinproletarisches Haus“ entstehen.
Von der Baustelle aufs Land
Woschtschew lernt nach und nach neue Menschen kennen; den grüblerisch veranlagten Bauleiter Pruschewskij, den eifrigen Gewerkschaftsfunktionär Paschkin, den verkrüppelten Kriegsveteran Shatschew und eine Reihe Arbeiter wie Tschiklin oder Kosow. Die Arbeit an der Grube und die von oben verordneten Anweisungen und Direktiven, bestimmen den Alltag und den Tagesrhythmus. Eines Tages bringt Tschiklin aus einer verlassenen Fabrik ein kleines Mädchen mit, dessen Mutter verstorben war. Nastja, das Waisenkind, wird von der Gruppe behütet und umsorgt. Selbst dann, als die meisten die Baustelle in Richtung Land verlassen haben, um die Enteignung von Bauern und die Vergemeinschaftung zu Kolchosen zu unterstützen.
Die Handlung scheint auf den ersten Blick überschaubar. Der Inhalt als eine kunstvoll-moderne Bestandsaufnahme und Kritik an der stalinistischen Herrschaft und den vermeintlich revolutionären Utopien einer klassenlosen und gerechten Gesellschaft sowie die Sprache erschaffen ein Bollwerk, an dem sich der Leser abkämpfen kann und sollte. Große Bücher sind keine weichgespülte Strandlektüre, sondern erscheinen als zerklüftete und massive Berge, die es zu erklimmen gilt; und das nicht nur einmal, sondern mehrmals, um die Umgebung auch umfassend wahrzunehmen. Doch der Suhrkamp Verlag greift mit der Neuausgabe in einer Neuübersetzung den Leser etwas „unter die Arme“. Der Band, in markanter Leinen-Optik gestaltet, versammelt in einem umfangreichen Anhang nicht nur Anmerkungen und Erklärungen zu den zahlreichen Anspielungen des Textes. Vermittelt wird auch die interessante Editionsgeschichte und zeitlose Bedeutung des Romans, der in dieser Neuausgabe von einem Nachwort der Übersetzerin Gabriele Leupold und einem Essay der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff („Blumenberg“, „Apostoloff“, „Das Pfingstwunder“) bereichert wird.
Unterdrückung mit Folgen
Der Roman, in nur wenigen Monaten in den Jahren 1929 und 1930 verfasst, hat es erst in den späten 1980er Jahren und damit mehr als drei Jahrzehnte nach Platonows Tod in den russischen Buchhandel geschafft. Zeit, die fehlte, um aus dem Autor, der als Ingenieur für Bewässerungstechnik tätig war, und dessen Werk einen modernen Klassiker der russischen Literatur werden zu lassen. „Die Unterdrückung der ‚Baugrube‘ hat die russische Prosa um fünfzig Jahre zurückgeworfen“, meinte Joseph Brodsky (1949 – 1996), dessen Zitat in großen Lettern auf dem Rücken des Buches geschrieben steht. Erst mit den vergangenen Jahren geschieht eine Aufarbeitung und damit Würdigung des Werkes Platonows. Die deutsche Neuübersetzung – bereits 1971, 1989/90 sowie 1992 war der kurze Roman in verschiedenen deutschen Verlagen veröffentlicht worden – orientiert sich an der Ausgabe der Russischen Akademie der Wissenschaften, die im Jahr 2000 erschienen war.
„Er schaute sich rings um sich – überall stand über dem Raum der Dampf lebendigen Atems und erzeugte schläfrige, stickige Unsichtbarkeit; müde zog sich die Geduld hin auf der Welt, als befände sich alles Lebende irgendwo inmitten der Zeit und der eigenen Bewegung: sein Anfang ist von allen vergessen und das Ende unbekannt, bleibt nur die Richtung nach allen Seiten. Und Woschtschew verschwand in den einzigen offenen Weg.“
Verrät bereits diese Editionsgeschichte viel über die Bedeutung des Inhalts des Romans, erscheint seine Sprache einzigartig, unvergleichlich, oft auch kryptisch. Platonow, der an seinem Werk im Laufe des Schaffungsprozesses zahlreiche Veränderungen und Streichungen vorgenommen hat, verbindet und verdichtet sprachlich verschiedene Ebenen. Ein Satz kann sowohl Beschreibungen eines Ortes und des Geschehens als auch Gefühle und Gedanken sowie Anspielungen auf politische und gesellschaftliche Begebenheiten enthalten. Ein Stil, der sehr viel Konzentration bei der Lektüre abverlangt. Die sperrig wirkenden Sätze sind meist lang, zudem reihen sich oft zahlreiche Genitive sowie Substantivierungen und sozialistische Schlagworte wie „Wahrheit“ und „Bewusstsein“, „Aktivist“ und „Genosse“ aneinander. Getragen wird die Handlung von einer sehr melancholischen, niedergedrückten Stimmung. Manche Szenen erscheinen skurril, wie jene mit einem Bären als Helfer in einer Schmiede, andere mystisch; so wünscht sich das kleine Mädchen, das nicht an ein Kind, sondern wie ein Sprachrohr der Partei oder eine besserwisserische alte Frau erinnert, die Knochen ihrer Mutter zu erhalten. Gewalt und Tod sind allgegenwärtig, die Vergeblichkeit des Seins ein stetig wiederkehrender Gedanke.
Wer „Die Baugrube“ liest, wird ergriffen sein, aber zugleich dieses merkwürdige Gefühl verspüren, in eine kalte und dunkle Welt schier aufgesogen zu werden, aber gleichzeitig von ihr abzuprallen. Es braucht Zeit, um sich in diese Welt hineinzudenken, die Verweise und Gedanken zu verstehen. Doch Aufwand, Kraft und Konzentration lohnen sich. Weil solch eindrucksvolle und unvergleichliche Literatur rar gesät ist und an sie immer und immer wieder erinnert werden sollte, um sie dem Vergessen, einem sehr schleichenden Prozess, zu entreißen.
Marina Büttner hat den Roman ebenfalls auf ihrem Blog „literaturleuchtet“ besprochen.
Andrej Platonow: „Die Baugrube“, erschienen im Suhrkamp Verlag, in einer Neu-Übersetzung aus dem Russischen von Gabriele Leupold; 24o Seiten, 24 Euro
Foto: pixabay
Du bist schneller, Constanze. Ich brauche noch etwas länger zum Lesen und Verarbeiten. Und es ist wirklich hilfreich zum Verständnis zuerst die Anmerkungen zu lesen. Liebe Grüße!
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Vielen Dank für Deinen Kommentar. Das Buch braucht seine Zeit und wirkt nach. Ich bin gespannt auf Deinen Beitrag. Viele Grüße
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interessant! habe jetzt in mehreren Feuilletons darüber gelesen, aber wenn auch du sagst, es sei lesenswert, dann macht mich das noch neugieriger.
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Vielen Dank für Deinen Kommentar, liebe Elvira. Bei mir war es auch ein Zeitungsbeitrag, der das Interesse geweckt hat. Es ist keine einfache Lektüre, aber ungemein bereichernd. Viele Grüße
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Heute hatte ich das Buch in der Buchhandlung in der Hand und war hin- und hergerissen… nun muss ich es morgen wohl doch kaufen! Vielen Dank für die schöne Besprechung und das eingebettete Video!
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Vielen Dank für Deinen Kommentar. Gern geschehen. Ich hoffe, das Buch sagt Dir genauso zu wie mir, auch wenn es eine herausfordernde Lektüre bedeutet. Viele Grüße
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„Große Bücher sind zerklüftete und massive Berge, die es zu erklimmen gilt“ Wow. Vielen Dank für diesen Satz! Herzliche Grüße, die Bücherflocke
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