Spätestens mit einem Umzug wird jeder, der Bücher aus Leidenschaft liest und sammelt, bemerken, was über die Jahre, ja Jahrzehnte zusammengekommen ist. Als ich im Herbst vergangenen Jahres von einer Wohnung in die andere ziehen wollte, entstanden in meinem früheren Wohnzimmer, im Flur und im Schlafzimmer regelrechte Kistenberge. Es ist schwer, mit Worten zu beschreiben, welchen Gesichtsausdruck die Mitarbeiter des Umzugsunternehmens machten, als ich ihre Frage, was denn in den Kisten denn so sei, kurz und knapp, aber durchaus selbstbewusst zu beantworten wusste: Bücher. Rund 80 Prozent der Kisten waren mit Büchern gefüllt, im Rest der Kartons waren Kleidung sowie Geschirr untergekommen. Doch nicht die Menge ist entscheidend. Einige der Bücher verbinde ich mit besonderen Erinnerungen. Sie erzählen Geschichten, zeigen auch, welche Bücher ich besonders schätzen gelernt habe. Es sind eben Schätze, bei denen nicht der einstige Kaufpreis entscheidend ist. Von einigen dieser Geschichten möchte ich Euch nun berichten.
Ich bin in der DDR aufgewachsen. In früheren Berichten habe ich dann und wann geschrieben, wie schwer es damals war, an bestimmte Bücher zu kommen. Beziehungen waren wichtig, um an die sogenannte Bückware, jene unter dem Ladentisch, zu kommen oder sich aus dem „Westen“, verbotene und geliebte Titel und Autoren schicken zu lassen. Es konnte auch geschehen, dass man zu Reisen in die Sowjetunion auf Bücher stieß, die hier zwar gedruckt worden waren, aber nie den Weg in die hiesigen Buchläden fanden. Mein Vater brachte mir in den 80er Jahren einen Band mit Ludwig Bechsteins Märchen mit, als er ein paar Tage in Leningrad weilte. Zu Geburtstagen und zum Weihnachtsfest erhielt ich stets ein Buch, mein Taschengeld floss meistens in den Kauf neuer Lektüre. Eines dieser geliebten Bücher aus Kindheitstagen ist „Der Elefant Londiste“ des estnischen Dramatikers Iko Maran (1915 – 1999). Das Buch mit Illustrationen von Heldur Laretei erzählt die Geschichte des Jungen Siim, der zu seinem Geburtstag einen Spielzeug-Elefanten geschenkt bekommt. Es ist noch antiquarisch erhältlich.
Zu den prägenden Erinnerungen an meine Kindheit zählen auch Winnetou und Old Shatterhand, die wohl bekanntesten Figuren der Welt von Karl May (1882 – 1912). Der gebürtige Sachse zählt zu den produktivsten Autoren seiner Zeit und wohl bis heute zu den meist gelesenen. Von Kult zu sprechen, scheint mir nicht übertrieben zu sein. Bis heute wird sein literarisches Erbe gepflegt, gibt es unter anderem auch eine Karl-May-Gesellschaft, die mit zu den größten literarischen Vereinigungen Deutschlands zählt und in diesem Jahr in Bad Kösen tagen wird. Doch ich komme etwas vom Thema ab, denn mit May und seiner Welt, die er erschuf, ohne jemals die Weiten Amerikas gesehen zu haben, habe ich bisher wenig am Hut. Vielmehr machte ich in der Jugend die Bekanntschaft mit der Autorin Liselotte Welskopf-Henrich (1901 – 1979) und ihrem mehrbändigen Werk „Die Söhne der großen Bärin“. Welskopf-Henrich reiste in den 60er und 70er Jahren in die USA und Kanada, um das Leben der Dakota-Indianer zu studieren. Während ich Winnetou und Old Shatterhand nur auf dem Fernsehbildschirm in Form der schon legendären Verfilmung mit Pierre Brice und Lex Barker sah, den Tod des Indianerhäuptlings zutiefst betrauerte und als Kind das Karl-May-Museum in Radebeul besucht habe, las ich später den ersten Teil „Harka“ der Welskopf-Henrich-Reihe und war begeistert. Irgendwie war es mir in jener Zeit nicht möglich, weitere Bände in die Hand zu bekommen. Jahre und Jahrzehnte vergingen, bis ich in der Stadtbibliothek Naumburg, die ich regelmäßig und häufig besuche, im dortigen Bücherflohmarkt auf eine Komplett-Ausgabe, erschienen als Paperback im Altberliner Verlag, stieß und sie natürlich (für wenig Geld) erwarb.
Geht es um Bücher und meine Bücherleidenschaft kann und muss ich von meiner Mutter erzählen. Sie führte mich früh an die Literatur, besuchte mit mir die Dorfbücherei, kaufte die eben erwähnten Buchgeschenke. Die Literatur verband uns. Wir sprachen oft darüber, empfahlen oder liehen uns Titel aus. Bis sie im Januar verstarb und eine riesige, nicht und niemals zu schließende Lücke entstand. Unter ihren Bücher-Nachlass fand ich jenen Roman, der zu ihren Lieblingsbüchern zählte und von dem sie mir häufig berichtet hat: „Der Zauberer von Muzot“ von Ernst Moritz Mungenast (1898 – 1964). Ihre Ausgabe stammt aus der Büchergilde Gutenberg von 1939 und aus dem Bestand meines Urgroßvaters väterlicherseits. Der nicht unumstrittene Roman erzählt von der Geschichte einer Familie in Metz und zugleich von der Historie von Mungenasts Heimat Lothringen. Die Ausgabe hat mit der Zeit sehr gelitten und braucht dringend die Zuwendung eines Buchbinders.
Ein Blick in meine Bücherregale verrät meine Leidenschaft für die Literatur des Nordens. Neben zahlreichen zeitgenössischen Romanen gehört zur Sammlung auch ein recht dicker Band: „Eventyr“, mit den gesammelten Märchen von Peter Christen Asbjørnsen und Jørgen Moe. Die beiden Schriftsteller könnte man als die „Grimm-Brüder“ Norwegens bezeichnen, sammelten sie doch wie Jakob und Wilhelm Grimm Märchen ihrer Heimat, nachdem sie das Land mehrfach bereist haben. Wer erfahren will, was es mit den mystischen und wohl auch gefürchteten Trollen auf sich hat, sollte die norwegischen Volksmärchen lesen. Dieser illustrierte und mehr als 600 Seiten umfassende Pracht-Band aus dem J.M. Stenersens Forlag Oslo hat eine weite Reise hinter sich. Ihn fand ich in einer Buchhandlung in Trondheim, während ich im Januar/Februar 2015 mit der Hurtigruten die norwegischen Küste entlang reiste; eine atemberaubende Tour auf der MS Polarlys von Bergen bis Kirkenes und zurück, bei der ich auch das Nordlicht sehen konnte.
Apropos Schwergewicht und Kälte: Gehen wir noch ein wenig weiter in Richtung Norden oder auch ganz weit in den Süden. Seit einigen Jahren bin ich fasziniert von den eisigen Welten der Arktis und Antarktis. Ob Reiseberichte, Bildbände oder Bücher über die großen Entdecker – ich lese sie sehr gern. Vor einigen Jahren machten einstige Kollegen mir ein besonderes Geschenk: „Mythos Nordpol. 200 Jahre Expeditionsgeschichte“ des französischen Polar-Forschers Jean Malaurie. Klar, dass da wenig später mit „Der Ruf des Nordens“ ein weiterer Band den Weg in meinen mehr und mehr anwachsenden Polar-Bestand fand.
Foto: pixabay
Ach, witzig, von Karl May war gestern beim „Warum ich lese“-Abend auch die Rede …
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Leider konnte ich nicht dabei sein. Ich hoffe, es war ein schöner Abend. Viele Grüße in die große Hauptstadt
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Das war jetzt aber nur der Anfang einer Reihe? Danke für die Einblicke.
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Gern geschehen! Für eine Reihe sollte ich dann noch etwas mehr stöbern. Viele Grüße
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Oh ja, vieles was Du schreibst, kommt mir sehr bekannt vor. Angefangen bei den vielen Bücherumzugskisten bis hin zu den ganz besonderen Exemplaren, die man nie, nie wieder aus der Hand geben wird, weil sie mit so vielen Erinnerungen und Emotionen verbunden sind. Und das Wunderbare ist, dass diese Auswahl von Leserin zu Leser meist sehr unterschiedlich sein kann. Deshalb vielen Dank für den Einblick in Deine.
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Vielleicht gibt es ja noch andere Blogger, die sich dem Thema anschließen und Ihre Buchschätze vorstellen…. Viele Grüße
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Eine schöne Idee, Deine Bücherregale und ihre Schätze so vorzustellen … und vor allem sieht man daran auch deutlich, wie sehr sich doch auch Kindheiten in der Lesesozialisation unterscheiden können – die meisten der vorgestellten Bücher kannte ich beispielsweise gar nicht.
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Vielen Dank für Deinen Kommentar, liebe Birgit. Ich finde es ebenfalls spannend, wie die Lesesozialisation in Ost und West geschehen ist. Ich versuche, immer mal wieder auf die damalige Situation in der DDR hinzuweisen. Es könnte ja auch ein Thema sein, Ost und West gegenüberzustellen, was wurde in Kindheit und Jugend gelesen, zu Hause oder auch in der Schule. Ich denke, da gäbe es spannende Beiträge und Einsichten. Viele Grüße
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Das ist eine gute Idee! Lass uns das mal für nach der Buchmesse im Auge behalten :-) Ich krame mal beim nächsten Mal, wenn ich zuhause bei meinen Eltern bin, meine Kinderbücher raus…
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Ich bin sehr gespannt….
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Ein Elefant („Babar“) steht ebenfalls am Anfang meiner Leseerfahrungen. Und Wilhelm Busch in einer Ausgabe des Bertelsmann Leserings, in dem meine Eltern Mitglied waren. Die Lesekarte der Stadtbücherei war das Entrée-Billet in ein Paradies der Stille und der Phantasie. Mit Pinocchio und dem Mädchen mit den Streichhölzern habe ich geweint. Tom Sawyer und Huck Finn habe ich nicht recht verstanden, aber eine Faszination ging dennoch von ihnen aus, eine Faszination der dunklen Art. Karl May habe ich natürlich verschlungen. Später war mir dann Gerstäcker („Die Flusspiraten“) lieber. Und Cooper („Lederstrumpf“, „Der letzte Mohikaner“). Seit diesen frühen Jahren (ich bin Jg. 54) gab es nicht viele Tage in meinem Leben, in denen ich nicht gelesen habe. Auf den Regalen wird es immer enger. Schön finde ich das (meine Frau weniger). Aber Umziehen? Der reine Horror. Mich von Büchern trennen? Nur wenn sie ein anderes gutes Zuhause finden.Und auch dann nur unter Schmerzen. Vermutlich werden meine letzten Worte lauten: „Jetzt schon?! Es gibt doch noch so viel zu lesen…“
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Vielen Dank, Ulrich, für Deinen wunderbar ergänzenden Kommentar, der sehr ausführlich ist. Manchmal habe ich den Eindruck, nur Bücherwürmer wissen, wie jeder einzelne dieser verrückten Art so tickt. Ich ernte immer mal wieder nachfragende Kommentare: Was schon wieder ein neues Buch, neue Bücher? Du hast doch schon die Bude voll? Man bekommt nie genug und will besondere Titel einfach haben. Da füllt sich dann schnell die Wohnung. Twains Sawyer und Finn wollte ich immer mal lesen. Viele Grüße und eine schöne Lesezeit
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