Machtspiele – Anna Kim „Die große Heimkehr“

„Wenn Erinnerungen zu lange eingesperrt sind, müssen sie ausgesprochen werden, sonst verwandeln sie sich in Geister.“

Die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs politisch in zwei Staaten geteilte Halbinsel Korea scheint in hiesigen Breiten nahezu ein weißer Fleck auf der literarischen Landkarte zu sein. Wenige Romane widmen sich den beiden Ländern. Selbst ist mir da nur der Roman „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ in Erinnerung, für den der Amerikaner Adam Johnson den Pulitzer-Preis erhalten hat. Und auch allgemein hält sich mein persönliches Wissen über Korea in Grenzen. Nun ist mit „Die große Heimkehr“ von Anna Kim ein Buch erschienen, das viel über die Geschichte beider Länder, vor allem die Schicksale von Menschen erzählen kann, die unter der Teilung des Landes und der Machtspiele zweier politischer Systeme zu leiden hatte.

Der Leser lernt den 78-jährigen Yunho Kang kennen, der zum Erzähler seiner eigenen Lebengeschichte und zugleich zum Geschichtslehrer über die wechselvolle Historie seines Heimatlandes wird, als eine Frau namens Hanna ihn besucht. Sie hat koreanische Wurzeln, lebt jedoch seit frühester Kindheit in Deutschland und arbeitet gelegentlich als Übersetzerin. Als Vierjährige war sie von einem deutschen Ehepaar adoptiert worden. Nun ist sie nach Seoul gekommen, um ihre Familie aufzuspüren. Stattdessen hört sie dem alten Mann zu, der ihr in seinem von Musik erfüllten und  von Büchern ausgefüllten Zuhause von seinen Erlebnissen berichtet. Ein Brief aus Amerika, den sie für ihn übersetzen soll, bildet den Auslöser für seinen emotionalen wie vieles erklärenden Bericht seiner Lebensgeschichte. Der Zeitrahmen spannt sich weit in die Vergangenheit – bis in die 40er Jahre, als Yunho in einem kleinen Dorf aufwächst. An seiner Seite: sein Freund Mino, Sohn eines einflussreichen Schuldirektors, der die Geschicke von Yunhos Familie lenkt.

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Die beiden Freunde verlieren sich in den Wirren des Bürgerkriegs aus den Augen, um sich jedoch 1959 in Seoul wiederzufinden. Aus zwei Freunden wird ein Trio. Mino, der sich fortan Johnny nennt, hat eine Freundin: Eve, alias Yunmee, die als Tänzerin in einer Bar arbeitet. Während Yunho mit den Kommunisten sympathisiert, für eine geheime linksgerichtete Zelle angeworben wird, pflegt Johnny Kontakte zu der gefürchteten, gewaltbereiten Nord-West-Jugend, die den derzeitigen despotischen Machthaber Rhee Syng-man und seinen Polizeistaat aktiv unterstützt. Nachdem Johnny während einer Demonstration einen früheren Mitstreiter tötet, müssen Eve, Yunho und er außer Landes fliehen. Per Schiff setzen sie illegal nach Osaka über, wo sie fortan in dem koreanisch geprägten Viertel der Stadt leben, indem sie sich als Geschwister ausgeben. Doch sie können nicht ahnen, dass Osaka ihre letzte gemeinsame Station ist. Denn Eve ist nicht die Frau, für die sie sich ausgibt. Zudem ist das Viertel in Aufruhr, als sich zahlreiche Mädchen einer Schule entscheiden, mit der „Großen Heimkehr“ nach Nordkorea auszuwandern, und eines der Mädchen plötzlich verschwindet.

Schätzungsweise mehr als 93.000 Menschen haben bis in die 80er Jahre hinein ihr Exil in Japan oder Südkorea verlassen, um fortan im kommunistisch geprägten Norden der Halbinsel zu leben. Die Propaganda trug Früchte, den Menschen wurde ein besseres Leben in einer gerechten Gemeinschaft vorgegaukelt. Es ist nicht die einzige Maßnahme, die Menschen für politische Überzeugungen zu gewinnen. Die Geschichte beider Länder zeigt deutlich, wie sie sowohl von den Systemen des Kommunismus und des Kapitalismus als auch durch den Einfluss der Fremdmächte China,  USA, Japan und Russland förmlich zerrieben wurden. In beiden Teilen hatten sich die Menschen vor Verfolgung und staatlicher Gewalt zu fürchten.  Der Roman zeigt allzu deutlich die Fratzen der Diktatur in all ihren Facetten auf: Yunhee erzählt von Zwangsarbeit, Massenverhaftungen und -Exekutionen, von Spionage und Verrat. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem wenig später folgenden Korea-Krieg kommen beide Teile nicht wirklich zur Ruhe. Der Roman erzählt schließlich auch, warum Nordkorea zu dem Land werden konnte, das es heute ist.

„Es heißt, die Suche nach den Formen sei eine Suche nach der Zeit; ich war auf der Suche nach der Vergangenheit. Ich bewegte mich vorsichtig, behutsam, um die Erinnerungen nicht zu verschrecken. Ich vermied es, Geräusche zu verursachen, sie waren Bewohner der Gegenwart, als solche konnte ich sie nicht dulden, einzig einem Vergangenen war es erlaubt, das Hier und Heute zu ignorieren. Unsichtbarkeit war meine Zuflucht, und ich tat alles, um eine Mauer zu erreichten, die es mir ermöglichte, gewesen zu bleiben.“

Nie scheinen die Menschen wirklich eine Chance zu haben, ihr Leben selbst bestimmt zu führen. Das zeigt deutlich das Schicksal Yunhos und seiner Familie: der Vater stirbt in Japan im Weltkrieg, die Mutter im Korea-Krieg. der ältere Bruder schließt sich den kommunistischen Partisanen an. Es sind Wunden, die den jungen Mann prägen und den alten Mann noch immer zeichnen. Auch Geheimnisse, die er später erfahren sollte, lassen ihn nicht los. Wer mehr als überleben wollte, musste eine andere Identität aufbauen, seinen Lebenslauf fälschen. Die geheimnisvolle Figur der Eve, in die sich Yunho verliebt, ist dafür bester Beweis.

Anna Kim hat mit ihrem Roman ein Buch geschrieben, das interessante Lehrstunden in Sachen koreanischer Geschichte bereit hält und zugleich eindringlich von menschlichen Schicksalen, zu erzählen weiß, die in einer von Politik geprägten Gesellschaft und Gemeinschaft gefangen sind. „Die Große Heimkehr“ ist ein fesselnder, berührender wie kluger Roman über die Machtspiele der Großmächte und Herrscher, die Heimatlosigkeit der Menschen sowie Liebe, Freundschaft und Verrat. Die 1977 in Südkorea geborene und heute in Wien lebende Autorin hat für ihr Werk vielfältig und aufwendig recherchiert und mit zahlreichen Personen gesprochen. Zu ihren Quellen zählte unter anderem das Archiv des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, das damals die „Heimkehr“-Aktion begleitet hatte. Der eine oder andere wird womöglich Parallelen zur deutschen Geschichte ziehen und erkennen, dass Diktaturen verschiedener Länder durchaus Gemeinsamkeiten haben. Steht in „Die große Heimkehr“  der alte Mann Yunho samt Freunde und Familie im Mittelpunkt, könnte ein zweites Buch die Erfahrungen jener Besucherin erzählen. Denn auch die Suche nach den Wurzeln war und ist noch immer ein großes menschliches Thema in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Eine weitere Besprechung hat Marina Büttner auf  „literaturleuchtet“ verfasst.


Anna Kim: „Die große Heimkehr“, erschienen im Suhrkamp Verlag; 558 Seiten, 24 Euro

Foto: pixabay

6 Kommentare zu „Machtspiele – Anna Kim „Die große Heimkehr“

    1. Das finde ich auch immer sehr spannend, wenn große Geschichte in einem Roman verpackt wird, gerade auch die Frage, wie die große Politik die Menschen immer wieder beeinflusst. Viele Grüße nach Berlin

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  1. Liebe Constanze,
    „Die große Heimkehr“ liegt auch schon auf meinem Lesestapel und nach Deiner Besprechung freue ich mich jetzt noch mehr auf das Lesen. Wenn ich doch nur mehr Zeit zum Lesen hätte…
    Viele stoßzeufzende Grüße, Claudia

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