Schein – Olivier Bourdeaut „Warten auf Bojangles“

„Bei Tageslicht zu weinen ist wirklich etwas anderes, der Traurigkeitsgrad ist ein anderer.“

Er liebt sie, sie liebt ihn. Gemeinsam lieben sie ihren Sohn. Gemeinsam leben sie wie in einem Märchen: mit einem Schloss, mit rauschenden Partys. Sie tanzen, als gäbe es kein Morgen mehr; ihr gemeinsames Lied: „Mr. Bojangles“ von Nina Simone (1933 – 2003). Traurig und lebendig zugleich –  wie ihr Leben. Der Franzose Olivier Bourdeaut erinnert in seinem Debüt „Warten auf Bojangles“ an diesen Evergreen der amerikanischen Sängerin und erzählt darin zugleich eine unvergessliche Geschichte über eine ganz besondere Familie und ihr tragisches Schicksal. 

Jungfernkranich Teil der Familie

Dabei fängt alles so beschwingt und voller Lebensfreude an: Georges lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in einer schönen und riesigen Wohnung in Paris. Er verdient reichlich. Ein Schloss in Spanien nennt die Familie ebenfalls ihr eigen. Ein Jungfernkranich namens Taugenichts zählt zur Familie. Der Vater pflegt gute Beziehung zu einem Senator, die Mutter die Verbindung in die Gesellschaft, viele Gäste strömen regelmäßig in die Wohnung. Doch der Schein trügt. Erst nach und nach wird das Geheimnis gelüftet, gibt es zu der eindrucksvollen Inszenierung auch den bewussten und offenen Blick hinter die Kulissen.

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Hinter der schier lebensgierigen, verdrehten Verrücktheit und Extravaganz von Georges‘ Frau, die nur die Sterne duzt, die ihren Mann und ihren Sohn mit „Sie“ anspricht und viele Namen trägt, verbirgt sich ein ernster Hintergrund, der nach und nach,  Schicht für Schicht offengelegt wird. Von Georges selbst, der neben seinem Sohn zum Erzähler des Geschehens wird. Er war im Gegensatz zu dem Kind eingeweiht, wusste um den Zustand seiner Frau und wagte trotz alledem eine Beziehung und die Gründung der Familie. „Mr. Bojangles“ von Nina Simone ist die Hymne auf ihre Liebe, zu der sie immer wieder tanzen, auch kurz bevor das schier Entsetzliche geschieht, das in der Tragik schließlich noch eine weitere Steigerung erfährt.

„Auf dem Gang waren viele Leute, die von außen vollmöbliert und völlig normal wirkten, innen aber fast leergeräumt waren.“

Nichts soll an dieser Stelle weiter verraten werden, um die verschiedenen Gefühlslagen, die während des Lesens entstehen, die sich überlagern und den Leser auf eine Achterbahn der Emotionen schickt, nicht vorwegzunehmen. Nur so viel: Nach der Erwärmung des eigenen Herzens angesichts eines liebevoll gezeichneten Familien-Psychogramms und einer Heiterkeit dank verrückter Szenen sowie eigenwilliger Charaktere darf am Ende durchaus geweint werden. Ich habe es auch getan! Bourdeaut ist in gewisser Weise unerbittlich. Obwohl er die kommende Tragik immer wieder leise andeutet – wenn er vom Schein schreibt, von den Lügen, die erzählt werden müssen, um vor allem das Kind nicht zu überfordern, um der Wahrheit aus dem Weg zu gehen, um dem Leben seine Helligkeit nicht zu nehmen.

Riesiger Erfolg im Heimatland

Dem Franzosen, 1980 geboren, gelang mit seinem Erstlingswerk, in einem kleinen Verlag erschienen, ein immenser Erfolg. Er führte mit seinem Roman monatelang die Bestseller-Listen an. Sein Debüt wurde bisher in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Wer „Warten auf Bojangles“ liest, wird wissen warum. Trotz des geringen Umfangs des Buches hat Bourdeaut viel zu erzählen: von der großen Liebe, dem Leben in all seinen Facetten und kleinen wie großen Glücksmomenten sowie dem ausweglosen Leid, dem man sich stellen muss, auf seine ganz persönliche Art und Weise. Bourdeauts Sprache findet für jede Szene und für jeden Gedanken seiner Protagonisten die richtigen Worte, die einen selbst sprachlos machen. Sein Buch ist federleicht und zugleich von einer tiefsinnigen Schwere, die einen nicht bedrückt, sondern jeden, der es liest, bereichert.  


Olivier Bourdeaut: „Warten auf Bojangles“, erschienen im Piper Verlag, in der Übersetzung aus dem Französischen von Norma Cassau; 160 Seiten, 18 Euro

Foto: pixabay

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