Echo der Vergangenheit – Andreas Pflüger „Niemals“

„Blind zu sein hat auch Vorzüge.“

Ihre Rückkehr beschließt sie in der Stille Schwedens. Hier hat sich Jenny Aaron nach ihrem letzten Einsatz zurückgezogen, um sich an der Seite von Lissek, dem einstigen Chef der Spezialeinheit, zu kurieren – seelisch wie körperlich. Vor wenigen Wochen hat die blinde Ermittlerin ihren Partner Niko verloren, und fast ihr Leben. Doch für ihre Genesung bleibt wenig Zeit: Erneut meldet sich die Vergangenheit zurück, und ihr früheres Team fordert ihre besonderen Fähigkeiten – wie bereits im letzten Fall, mit dem Andreas Pflüger die Reihe über die charismatische wie außergewöhnliche Ermittlerin mit dem Band „Endgültig“ beginnen ließ. 

Wer ist der Broker?

In dem nun zweiten Band „Niemals“ kehrt sie nach Berlin und zum Spezialteam, das als geheime Elitetruppe mit Kontakt zum BKA zu den gefährlichsten Einsätzen gerufen wird, zurück. Zur Freude ihres Partners Pavlik und dessen Frau Sandra, mit denen Aaron sich besonders freundschaftlich verbunden fühlt, sowie der Teamchefin Demirci, die die junge Ermittlerin sehr schätzt. Ein neuer Einsatz führt Aaron und Pavlik nach Marrakesch. Zum einen, um jenen Mann aufzuspüren, der unter dem Namen „Der Broker“ für zahlreiche Anschläge verantwortlich ist, mit denen er in der Vergangenheit die Börsenkurse zu seinen Gunsten beeinflusst hat, zum anderen hat Ludger Holm, der für Aarons Erblindung vor fünf Jahren in Barcelona verantwortlich ist, der Sonderermittlerin überraschenderweise eine sehr große Geldsumme vermacht, die in einer Bank in Marrakesch hinterlegt ist.

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Mit der Stadt verbindet Aaron viele Erinnerungen an die Kindheit und ihren Vater, der für sie schon früh zum Mentor wurde, sowie an ihre einst leidenschaftliche Beziehung zu Niko. Aaron und Pavlik geraten in der erhabenen Königsstadt Marokkos mit ihrem eindrucksvollen Flair schon früh in Schwierigkeiten, in Auseinandersetzungen, bei denen der schnellere und stärkere gewinnt, der andere sein Leben verliert. Pflügers „blutgetränkter“ Thriller ist kein Krimi mit einer überschaubaren Zahl an Toten. Hier fliegen die Kugeln, die Fäuste und Beine. Es gibt kein Erbarmen, weil der Gegner ohne Zweifel ebenfalls keine Gnade kennt. Überleben ist das Ziel in dieser Welt, in denen die Kriminellen und Mächtigen sich um ein Menschenleben nicht scheren. Und Aaron und Pavlik haben es bei dem Broker nicht nur mit einem eiskalten und berechnenden Menschen, sondern auch mit einem überaus klugen Kopf zu tun, der die blinde Ermittlerin bereits zehn Jahren zuvor während eines ebenfalls lebensgefährlichen Einsatzes in Rom regelrecht genarrt hat. Er verfügt über ein Heer aus brutalen Handlangern, darunter auch ein Ex-Polizist und einstiger Kollege, sowie Verbindungen in höchste Politik- und Polizeikreise, was Aaron und ihre Truppe zu spüren bekommen.

„Aber manchmal ist es gut, das Verlorene zu spüren.“

Wieder einmal holt Aaron die Vergangenheit ein, wieder einmal beweist sie ihre extremen Fähigkeiten, die weit über die Leistung einer normalen Ermittlerin hinausgehen. Die Blindheit hat sie womöglich um einen wichtigen Sinn beraubt, doch ihre anderen Sinne sind umso geschärfter. Hinzu kommen ihre körperliche Fitness, ihre Klugheit und ihr erstaunlicher Wille, ihr sicherer Umgang mit Waffen jeglicher Art, ihr Loyalität zu ihren Kollegen. Doch Aaron ist keine Maschine: Die große Stärke von Pflügers Schreiben liegt wieder in der Ausgestaltung der Psyche, des Seelenlebens seiner Helden. Die Verluste haben sie verändert, die Erblindung noch verletzlicher gemacht. Die „Zehn Dinge“, kurze Aufzählungen zu Aarons besonderen Vorlieben oder Dingen, die sie nicht mag, über das ganze Buch verstreut, sagen dabei oftmals mehr über ihre Person als eine ganze Seite mit Charaktereigenschaften. Träume und Erscheinungen sind Spiegel in ihr Innenleben – für sie selbst und für den Leser. Auch die verschiedenen Beziehungen zwischen den Team-Mitgliedern, deren Eigenschaften, bringt Pflüger dem Leser nah.

Eine besondere Therapie, die Aaron angeboten wird, könnte ihre Sehkraft zurückholen, doch sie bringt diese unglaubliche Chance nahezu in Gefahr, weil sie während ihres Einsatzes nicht an ihre Grenzen denkt. Und auch hier schreibt Pflüger nicht von einer fiktiven Märchenwelt. Dem Band ist wieder das reiche und vielfältige Wissen seines Schöpfers anzumerken, das er im Vorfeld bei Gesprächen mit blinden Menschen, einem Hirnforscher und weiteren Medizinern sowie Angehörigen des BKA ausgiebig recherchiert hat. Ein Nachwort gibt da erhellende Einblicke. Interessant auch die zahlreichen Verweise zu Bushidō, der Gedankenwelt des japanischen Militäradels.

Inhalt gibt der Sprache eine Form

„Niemals“ ist hingegen nicht nur inhaltlich so überaus reich und ein spannendes, oft auch berührendes Meisterwerk. Sprachlich lässt Pflüger die gewohnten Wege von Autoren des Krimi- und Thriller-Genres weit zurück, schafft einen eigenen, persönlichen Stil, der sowohl die Blindheit der Heldin als auch die Kämpfe und Verfolgungsjagden aufnimmt und die Sprache dahingehend auch verändert. Geräusche spielen eine wesentliche Rolle. Wenn es gefährlich wird, das Geschehen an Tempo gewinnt, wird die Satzstruktur aufgegeben, „klammern“ sich die Wörter und kurze Passagen regelrecht aneinander. Die Dialoge sowie der recht eigenwillige Humor, der einen nach einer ergreifenden Stelle überraschend schmunzeln, sogar auflachen lässt, sind mehr als nur das gewisse i-Tüpfelchen. Obwohl „Niemals“ in seiner Struktur eng mit dem Vorgänger-Band eindrucksvoll verwoben ist, könnte man den Roman auch ohne Vorwissen lesen. Eines ist indes nach der Lektüre gewiss: Der nächste Band muss unbedingt her. Denn was wäre die Krimi-Thriller-Welt nun ohne einen weiteren Fall für Jenny Aaron.

„Zeichen & Zeiten“ verlost mit Unterstützung des Suhrkamp Verlags ein Exemplar des Romans. Wer es gewinnen möchte, setzt bitte bis Freitag, 22.  Dezember, einen Kommentar unter diesen Beitrag. Die Glücksfee entscheidet. Der Gewinner wird benachrichtigt.  


Andreas Pflüger: „Niemals“, erschienen im Suhrkamp Verlag; 475 Seiten, 20 Euro

Foto: pixabay  

4 Kommentare zu „Echo der Vergangenheit – Andreas Pflüger „Niemals“

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