Familie – Ljudmila Ulitzkaja „Jakobsleiter“

„Das Leben jedes Menschen ist ein Text.“

Was bleibt nach dem Leben eines Menschen? Das, was er geschaffen hat, die Erinnerungen jener, die ihn kannten und liebten. Sicherlich auch Fotos und womöglich auch Geschriebenes. Nach dem Tod ihrer Großmutter Marussja erhält Nora Ossetzkaja eine Weidentruhe mit Briefen und Tagebuch-Notizen ihres Großvaters Jakow, den sie in ihrem Leben nur einmal als Kind gesehen hat. Dieses Erbe auf Papier, abgestellt auf dem Balkon, gerät für einige Jahre in Vergessenheit, ehe Nora sich an die Truhe erinnert und nach der Lektüre vieles über ihren Großvater und dessen Leben, Gedanken und Gefühle erfährt. Sechs Generationen und mehr als ein Jahrhundert umfasst der neue Roman der russischen Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja „Jakobsleiter“, der eindrucksvoll davon erzählt, was Familie bedeutet und wie politische Umstände, die später Geschichte werden, auch immer wieder das Dasein der Menschen beeinflusst.     

Gesetz der Paarigkeit

Neben einem Zitat aus Shakespeares bekannter Tragödie „König Lear“ zieht sich ein besonderes Leitmotiv wie ein roter Faden durch diesen Roman, das konkret benannt wird und sich zugleich in der Ausgestaltung der Figuren sowie im Aufbau des Romans manifestiert. Im ersten Drittel ist an einer Stelle von dem sogenannten Alltagsgesetz der Paarigkeit zu lesen, demzufolge ähnliche Ereignisse zweimal hintereinander stattfinden. Auch auf die DNA, in der bekanntlich die Erbinformationen enthalten sind und die aus Doppelketten besteht, wird mehrmals im Text hingewiesen. Das liest sich vielleicht an dieser Stelle etwas kompliziert, ist es allerdings nicht. Der Roman erzählt letztlich davon, wie sich Eigenschaften, Leidenschaften und Fähigkeiten in den nachfolgenden Generationen wiederholen. Jakow, den der Vater auf die Handelsschule schickt, will eigentlich Musiker werden. Die Musik wird ihn sein ganzes Leben begleiten – durch die Jugend und die zuerst leidenschaftliche, später sich auflösende Ehe mit Marussja, sogar in den schweren Jahren der mehrjährigen Verbannung in Stalingrad und Bijsk in den 1930er-Jahren sowie während seines späteren Aufenthaltes im Lager nach einer erneuten Verhaftung 1948. Noras Sohn Jurik wird diese Liebe und Leidenschaft zur Musik „erben“. Auch er erlebt schwierige Zeiten, versinkt nahezu im Drogensumpf während seiner Zeit in New York. Seine Mutter Nora hingegen lebt den Traum ihrer Großmutter Marussja, die erst als Erzieherin wirkt, später in der Bewegungskunst aufgeht, auf der Bühne steht. Allerdings nicht mit jenem späteren Erfolg ihrer Enkelin, die als Bühnenbildnerin im In- und Ausland Bekanntheit erlangt, später als Regisseurin tätig ist.

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Viele Geschichten und Schicksale charismatischer Personen erzählt der vielschichtige und reiche Roman. Ohne alle an dieser Stelle aufzählen zu wollen, sind jedoch noch Noras Mann und Mathematik-Genie Vitja sowie ihre spätere große Liebe, der georgische Regisseur Tengis, mit dem sie an zahlreichen Inszenierungen arbeitet, der in ihrem Leben immer wieder auftaucht, um wenig später für eine längere Zeit zu verschwinden, besonders zu nennen. Diese Geschehnisse nach 1945 bis einige Jahre über die Jahrtausendwende bilden einen Strang der Handlung, die zwischen den Zeiten und Generationen hin und her springt. Den zweiten füllen die Briefe von Marussja und Jakob sowie dessen Tagebuch-Notizen, Zeugnisse, die nicht nur von der leidenschaftlichen wie wechselvollen Beziehung erzählen, die ihren Anfang in Kiew nimmt und durch die jahrelange Trennung und unter dem politischen Zwist angesichts verschiedener Meinungen der Partner leidet. Sie berichten auch von den schweren Zeiten, in denen sich grausame Ereignisse nahezu wie auf einer Perlenkette aneinanderreihen: Revolution, Pogrome, die beiden Weltkriege sowie die Verfolgung und Vernichtung im Stalinismus.

Leid der Intellektuellen

Nahezu jede Generation tritt den Beweis an, wie der Mensch von seinem politischen wie gesellschaftlichen Umfeld geprägt, wie seine Würde und Freiheit verletzt wird und das Leben einen ganz anderen Lauf nimmt, als erhofft und erwünscht. Vor allem die Intellektuellen haben unter den unerbittlichen Folgen der Diktatur zu leiden. Das erlebt Jakow durch Verbannung und Straflager, das erleben später auch Vitja und Nora. Er wird aus einem wissenschaftlichen Projekt verdrängt und kann sich erst in den USA verwirklichen, sie muss mitansehen, wie ihre Inszenierungen abgesetzt oder erst gar nicht für die Bühne freigegeben werden.

„Unser Leben, unser einziges und für uns so verheißungsvolles Leben, spielt sich vor dem Hintergrund eines großen weltweiten Wahnsinns ab.“

„Jakobsleiter“  ist deshalb so reich an Themen und Verweisen, weil neben den berührenden Schicksalen und der Geschichte eines Jahrhunderts Ulitzkaja vor allem der Kunst und Kultur einen breiten Raum gibt. Ob Musik, Theater oder Literatur – zahlreiche große Namen und ihre Werke sowie ihre Wirkung auf die Menschen finden Erwähnung und beweisen, welche Bedeutung Kunst und Kultur in schweren Zeiten haben. Auch die Religion spielt eine Rolle, vor allem in der Figur eines Freundes Vitjas. Zudem verweist der Titel des Romans, der im Übrigen auf einem umfangreichen Briefwechsel von Ulitzkajas Großeltern basiert, auf eine Passage aus der Bibel: den Traum Jakobs, in dem ebenfalls auf die Bedeutung folgender Generationen hingewiesen wird. Trotz dieser umfangreichen zweisträngigen Handlung, der Vielzahl an Generationen und Figuren sowie den Sprüngen zwischen den Zeiten nimmt dieses komplexe und sprachlich herausragende Werk den Leser sehr schnell auf und zieht ihn hinein in die unterschiedlichen Leben und Schicksale.

Was mir ein Roman Bedeutsames sagt, zeigen nach dessen Lektüre oftmals kleine bunte Fähnchen, die besondere Passagen markieren. Das neue Werk der russischen Schriftstellerin trägt viele dieser Klebezettel. Und ich klappte den umfangreichen Band mit einem speziellen, auch melancholischen Gefühl zu: Dass „Jakobsleiter“ als ein sehr menschliches Buch über die Bedeutung von Familie, die Beziehungen der Generationen, Liebe und Leidenschaft, Freiheit und Unfreiheit des Menschen mich berührt und bereichert hat.

Weitere Besprechungen sind zu lesen auf den Blogs „literaturleuchtet“ und „Muromez“.


Ljudmila Ulitzkaja: „Jakobsleiter“, erschienen im Hanser Verlag, in der Übersetzung aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt; 608 Seiten, 26 Euro

Foto: pixabay

2 Kommentare zu „Familie – Ljudmila Ulitzkaja „Jakobsleiter“

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