Wellenreiter – William Finnegan „Barbarentage“

„Doch Wellen tanzen zu einer endlos komplexen Melodie.“

Mit zehn Jahren sieht er die ersten Wellenreiter, mit elf erhält er das erste Surfbrett geschenkt. Es ist größer als er selbst, doch es wird sein Leben von grundauf verändern und es auch die kommenden Jahre und Jahrzehnte bestimmen. In dieser Zeit lernt William Finnegan die Welt und zahlreiche wunderschöne und einsame, aber auch gefährliche Surfspots kennen, an denen eine falsche Bewegung, eine falsche Einschätzung der Welle und ihre bestimmenden Faktoren das Leben kosten kann. Über seine Leidenschaft hat der amerikanische Journalist ein Buch geschrieben, das jedoch mehr ist als ein Buch über das Surfen und eine Autobiografie und für das er zu Recht im Jahr 2016 den renommierten Pulitzerpreis erhalten hat.

Wer diesen knapp 570 Seiten starken Band liest, wird in eine andere Welt eintauchen. Denn Surfen, dessen deutscher Begriff „Wellenreiten“ nahezu poetischer erscheint, ist nicht nur eine Freizeitbeschäftigung, es ist auch kein reiner Sport, wie Finnegang an einer Stelle schreibt. Es ist vielmehr eine Lebenseinstellung. Denn um das Surfen zu lernen und zu leben, braucht es nicht nur die Liebe zum Meer und Wagemut, nahezu Furchtlosigkeit, es braucht auch Disziplin und Leidenschaft, um Grenzen zu überwinden. Finnegang lässt als junger Mann seine Eltern, die bei Film und Fernsehen arbeiten, sowie seine drei jüngeren Geschwister Kevin, Colleen und Michael zurück, um die Welt zu bereisen. Hat er als Jugendlicher die berühmten Spots in Hawaii, wo die Familie einige Zeit lebt, sowie Kalifornien kennengelernt, macht er mit seinem Freund Bryan auf einer zweijährigen Low-Budget-Tour 1978 und 1979 die Bekanntschaft von in der Surfer-Szene oft auch unbekannten Orten im Südpazifik, in Australien, Südostasien und Südafrika. Später wählt er San Francisco, folgend Long Island vor den Toren seiner Geburtstadt New York zu seinem heimatlichen Revier, reist er regelmäßig auf die bergige und schroffige Insel Madeira.

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So ist dieses Buch mehr als nur ein Buch über das Surfen. Es kann auch als Reisebericht gelesen werden. Denn Finnegan, 1952 geboren, ist nicht nur ein herausragender Schreiber, er ist auch ein sehr guter Beobachter, der empathisches Gespür für Land und Leute beweist.  Eine Gabe, die ihn zu dem werden ließ, der er heute ist. Der Amerikaner arbeitet seit Ende der 80er-Jahre für das bekannte Magazin „The New Yorker“. Für seine meist politischen Reportagen ist er ebenfalls um den Erdball gereist, auch als Kriegsberichterstatter. Bereits auf der Surf-Tour Ende der 70er-Jahre begann er zu schreiben – für Zeitungen, für Zeitschriften, für das eigene Notizbuch. Begleitet von seinen zahlreichen Lektüren. Denn Finnegan ist zudem ein manischer Leser, so dass er in seinem preisgekrönten Werk auch vom Lesen und seiner Liebe zu den Büchern berichtet.

Doch egal welchem Thema er sich widmet, der Amerikaner zeigt sich stets als kritischer Geist. Er mahnt den Massenbetrieb, der einstige natürliche Paradiese in den Tropen mit unzähligen Touristen und Surfer überzieht, sowie gesellschaftliche Ungerechtigkeit, Rassismus, Armut und Gewalt an – ausgelöst durch seine frühe Begegnung mit der amerikanischen Friedenbewegung in den 70er-Jahren, später durch Erlebnisse in Südafrika, wo er als Lehrer in einer Schule tätig ist und Zeuge wird von den Folgen der Apartheid.  Aber auch mit Selbstkritik spart er nicht: Ehrlich berichtet er über persönliche Fehler, sei es mit Blick auf enge Freundschaften und Beziehungen oder bezugnehmend auf die eigene einst ziellose Lebensführung, den Drogenkonsum in der frühen Jugend, den er später bereut. Als er seine langjährige Freundin Caroline, eine Künstlerin und spätere Juristin, heiratet, sie beide Eltern der kleinen Mollie werden, erkennt er seine Verantwortung als Mann und Vater. Ihm wird klar, welchen Gefahren er sich aussetzt – beim Surfen, bei der Arbeit als Kriegsberichterstatter. Es scheint in Finnegans Leben kaum eine ruhige Phase gegeben zu haben. Abenteuer, Energie, aber auch Hingebung, zu jenen Dingen, die er schätzt und liebt, prägen und bereichern sein Leben, das manchmal auch ein frühes Ende hätte finden können; ob während eines waghalsigen Wellenrittes oder einer lebensbedrohlichen Erkrankung, unter der er in den Tropen leidet.

„Ich glaubte, dass ich hier war, um zu lernen, und damit meinte ich mehr als nur ein paar Fakten über entlegene Orte und Menschen. Ich wollte neue Formen des Daseins lernen. Ich wollte mich ändern, mich nicht mehr so existenziell entfremdet, mich in meiner eigenen Haut mehr zu Hause fühlen, wie es so schön heißt, und auch in der Welt.“

Finnegans Sprache ist bilderreich, sein Stil an vielen Stellen auch philosophisch und poetisch. Sein Buch, begleitet von zahlreichen Fotografien, ist reportagehaft und zugleich literarisch. Es regt zum Nachdenken an, aber auch zum Staunen – über dieses von einer Leidenschaft bestimmte Leben, über die Kraft und die Schönheit der Natur, im Speziellen der Meere und Ozeane. Es entführt an exotische Orte und in die besondere Welt der Surfszene. Sehr ausführlich beschreibt er seine Begegnungen und Erfahrungen, seine Erfolge und Niederlagen als Wellenreiter an den verschiedensten Orten der Welt, die Entwicklung der Ausrüstung mit den Jahren sowie die zahlreichen örtlichen Faktoren, die Größe und Form einer Welle bestimmen und von denen der Surfer wissen sollte. Zahlreiche englische Fachwörter finden sich denn auch in diesem Band, der jedoch am Ende eine praktische Übersicht der Ausdrücke bereithält.

Den einen oder anderen werden diese Beschreibungen des Surfens und den verschiedenen Surfer-Typen womöglich etwas zu ausführlich erscheinen. Aber letztlich sind diese Ausdruck einer speziellen Leidenschaft und Lebensart, die in ihrer Freiheit  und ihrer Reduziertheit auf die Begegnung zwischen Mensch und Natur eine erstaunliche Faszination birgt, von der leider die meisten wohl mehr träumen, als sie wirklich zu erleben.


William Finnegan: „Barbarentage“, erschienen im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Tanja Handels mit fachlicher Beratung von Jens Steffenhagen; 566 Seiten, 18 Euro

Foto: pixabay

11 Kommentare zu „Wellenreiter – William Finnegan „Barbarentage“

  1. Sehr schöne Rezension. Das von Dir Beschriebene erinnert mich ein wenig an Norman Ollestads „Süchtig nach dem Sturm“, welches bei mir aus ähnlichen Gründen (poetische Sprache, bilderreich, philosophisch) Eindruck hinterlassen hat und bei dem auch das Thema Surfen eine große Rolle spielt. – LG aus der Crime Alley

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    1. Ja, Ollestadts Süchtig nach dem Sturm ist toll. Die Eisntellung, dass man Risiken eingehen muss, sie aber auch abschätzen können muss, hat mir sehr geholfen, was meinen Lütten angeht. Ein super Tipp, Stefan, süchtig nach dem Sturm muss ich auch al wieder lesen. Monsterwellen kann ich noch empfehlen -ist aber auch ein Sachbuch über die Entstehen und Forschung zu den Monsterwellen, die zum Beispiel Laird Hamilton und Consorten versuchen zu reiten – mit Erfolg. Lg, Bri

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      1. Schön, wenn ein Buch anregt, weitere zu lesen, liebe Brigitte. Ich habe schon auf Stefans Kommentar geschrieben, dass ich Zufall oder nicht den Roman von Ollestadt kürzlich gekauft habe, auf dem Flohmarkt gefunden. Auch „Monsterwellen“ behalte ich mal im Hinterkopf. Viele Grüße nach Berlin

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      2. Genau das macht es für mich aus, diese Verbindung zueinander, die in allem steckt ;) Auch in Büchern. Habe heute die Barbarentage angelesen und finde es bisher sehr ansprechend. Mittlerweile bin ich vorsichtig, was Anfange und Weiterführung von Büchern angeht ;))) Aber es können ja auch nicht immer nur Perlen aufgesammelt werden. LG und einen schönen Sonntag

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      3. Ich muss gestehen, dass ich persönlich noch keinerlei Erfahrung mit dem Surfen gemacht habe. Was für meinen Körper wohl auch ganz gut so ist. *lach* Dennoch kann man sich der Faszination nicht ganz entziehen. Danke für den Tipp, „Monsterwellen“ schaue ich mir gleich mal näher an.

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      4. Ich auch nicht. Also Erfahrung mit dem Surfen. Ich leibe das Wasser, schwimme gerne, aber bin voller Hochatung vor Menschen, die da komplett in ihrem Element sind. Wassermänner und -frauen eben. Diese Freiehit, die Risiken wirklich einschätzen können, das finde ich klasse. LG

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  2. Eine wunderbare Rezension – zu einem sehr tollen Buch. Mich hat das Buch auch völlig gefesselt, wenngleich ich alles andere als ein Surfer bin. Aber dieses Lebensgefühl, diese beständige Suche nach dem nächsten Ritt. Das ist Urlaub in Buchform. Günstiger kann man nicht verreisen …

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    1. Vielen Dank, Marius, für Deinen Kommentar. Ja, mich hat dieses Lebensgefühl, das ja auch eine besondere Lebenseinstellung ist, sehr imponiert. Diese Reiselust, diese Neugierde auf andere Länder, auf andere Menschen. Viele Grüße

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