Mutter mit Geheimnissen – Michael Ondaatje „Kriegslicht“

„Wir ordnen unser Leben dank kaum näher ausgeführter Geschichten.“

Was teilen Eltern mit ihren Kindern? Eine gemeinsam verbrachte Zeit, all das, was in dem eigenen Haus, in der Wohnung zu finden ist? Wenn es jedoch um die Vergangenheit der Älteren geht,  haben die Jüngeren bei einem Blick auf deren Leben oftmals den Eindruck, auch auf Geheimnisse, Unausgesprochenes zu stoßen. Egal welche Gründe sich hinter dieser Verschwiegenheit verbergen. In seinem neuen Roman mit dem Titel „Kriegslicht“ erzählt Michael Ondaatje von einer brüchigen Eltern-Kind-Beziehung infolge von Geheimnissen und wie sich Krieg auf die Menschen auswirkt.

Von einem Tag auf den nächsten werden Nathaniel und seine ältere Schwester Rachel von ihren Eltern verlassen. Man schreibt das Jahr 1945, der große Krieg ist zu Ende, doch das Land und die Welt sind noch immer Teil von höchst unruhigen Zeiten. London zeigt sich nach den Bombenangriffen als verwundete Stadt. Den Vater ziehen wichtige Geschäfte nach Asien, die Mutter wird wenige Wochen später dem heimatlichen London ebenfalls den Rücken kehren. Oder ist sie womöglich gar nicht verreist? Denn eines Tages stoßen die Geschwister auf den Koffer der Mutter. Nach einiger Zeit in einem Internat leben die Kinder wieder zusammen in dem Haus der Familie, in dem sich nach dem Weggang von Mutter und Vater auch illustre Gestalten versammeln. Da ist jener mysteriöse Mann, ein angeblicher Kollege der Eltern, den die Kinder Falter nennen. Ein anderer heißt Boxer und hat eine russische Geliebte an seiner Seite. Der polyglotte Arthur McCash wird den Jungen in die faszinierende Welt der Sherlock-Holmes-Romane einführen. Jener Haufen merkwürdiger Gestalten wird für Nathaniel und Rachel zu einer Ersatzfamilie. Mit Agnes, einer Kellnerin, die Nathaniel bei seiner Arbeit in einer Banquet-Hall kennengelernt hat, erfährt er die erste große Liebe. In leeren Häusern, die zum Verkauf stehen, treffen sie sich heimlich, um miteinander zu schlafen.

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Wer diese Männer sind, welche Rolle sie im Leben der Jugendlichen spielen beziehungsweise welche Bedeutung sie auch für die Mutter hatten, erfährt Nathaniel, der auch als Ich-Erzähler fungiert, erst Jahre später, als er sich in dem Haus der Großeltern niedergelassen hat und sich als Angestellte des Außenministeriums auf die Spuren seiner Mutter begibt, Kollegen sowie Bekannte begegnet, die ihr Doppelleben offenbaren. Im Krieg zuerst als Funkerin und Dechiffriererin im Einsatz, wird Rosa zu einer Spionin ausgebildet, nachdem sie von dem Geheimdienstler und einstigen Dachdecker Marsh Felon „entdeckt“ wird. Ihre gefährlichen Aufträge führen sie unter dem Decknamen „Viola“ während und sogar nach dem Krieg ins Ausland. Für ihre Familie, allen voran für beide Kinder bedeutet das ein Leben im Geheimen und in ständiger Gefahr zu führen, ohne davon zu wissen. Wie ernst die Lage ist, wird deutlich, als die Geschwister und ihre Begleiter überfallen werden. Ein Ereignis, das beide Kinder besonders prägen wird, vor allem Rachel, die unter Anfällen leidet, wendet sich komplett von der Mutter ab.

„Kriegslicht“ hinterfragt die Rolle und Bedeutung von Identitäten und Beziehungen. Vor allem die wechselvolle Bindung zwischen Nathaniel und seiner Mutter steht dabei im Mittelpunkt. Mit jeder Erinnerung, mit jeder neuen Information zu ihrer Aufgabe, ihrem speziellen beruflichen Weg entsteht ein anderes Bild, als das der Leser womöglich noch zu Beginn des Romans ihr hatte. Sie ist keineswegs die Rabenmutter, die ihre Kinder vollkommen im Stich gelassen hat. Doch ihre Tätigkeit hat grundlegend auf die Familie gewirkt, die vielleicht diese Bezeichnung nicht wirklich verdient. Denn alle Mitglieder gehen ihren eigenen Weg, die Familie wird zerrissen. Selbst zu Rachel, die es später in das Theater führen soll, verliert Nathaniel mit der Zeit allmählich den engen Kontakt. Er selbst begibt sich mit Boxer in jungen Jahren auf Schmugglerboote, mit denen Windhunde und Porzellan transportiert werden. Mit seiner Mutter verbringt er vor ihrem frühen wie furchtbaren Tod zudem einige Zeit in Amerika. Bei dem Gärtner und Bauer Sam Malakite, für den Nathaniel nach seiner Rückkehr nach England arbeitet, findet er Sicherheit und Ruhe. Mit den Erinnerungen und den vagen und fragmentarischen Informationen, die er wie auf einer Schnitzel-Jagd nach und nach sammelt, kehren jedoch die Vergangenheit und die vermeintlich vertrauten Personen im Geiste, teils auch persönlich zu ihm zurück.

„Wenn man seine Erinnerungen zu schreiben versucht, heißt es, muss man sich als Waise fühlen. Sodass einem, was einem fehlt, wie auch die Dinge, die man mittlerweile mit Vorsicht betrachtet, beinahe aus Versehen zufällt. Man erkennt, dass ‚ein Buch der Erinnerungen das verlorengegangene Vermächtnis‘ ist, und unterdessen muss man lernen, wie und wohin man schauen soll.“

Ondaatje zeichnet in seinem nunmehr achten Roman ein düsteres Bild, in dem das wenige Licht sowie besondere Lichtstimmungen, die es gibt, hervorgehoben werden.  Die Herausforderung an den Leser findet sich in der spannenden Aufgabe, die einzelnen Zeiten, Handlungsfäden und Episoden zu einem Bild zusammenzuführen – wie zerrissene Blätter Papier als ein Puzzle wieder zusammengelegt werden können. Auch daraus entsteht ein Sog, der den Lesenden in jene meisterhaft erzählte wie facettenreiche Geschichte hineinzieht. „Kriegslicht“ verbindet nicht nur eine Coming-Age-Story mit dem Porträt einer besonderen Frau. Der Roman mit seinen ungemein charismatischen Figuren zeigt auch eindrücklich, wie Krieg auf nahezu jeden Mensch wirkt, das wirklich keiner davon verschont wird; weder Kinder noch Frauen – und das vor allem die Jüngsten leiden, weil sie die Hintergründe des entsetzlichen Geschehens, dessen Folgen und die Antwort auf die Frage, wer darin welche Rolle spielt, weder kennen, noch erahnen können.


Michael Ondaatje: „Kriegslicht“, erschienen im Hanser Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Anna Leube; 320 Seiten, 24 Euro

Foto: pixabay

7 Kommentare zu „Mutter mit Geheimnissen – Michael Ondaatje „Kriegslicht“

    1. Vielen Dank für Deinen Kommentar, liebe Elvira. Ich denke, wenn man die Werke eines Schriftstellers kennt, ist man vielleicht auch etwas kritischer im Umgang mit neuen Romanen. Ich brauchte auch einige Seiten, um mich hineinzufinden, aber dann fühlte ich den Sog und fand die Story samt ihrer Sprache faszinierend. Viele Grüße gen Berlin

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