Ketil Bjørnstad „Die Welt die meine war“

„Das ist mein Platz. Der des Betrachters.“

Als ich dieses Buch las, hatte ich oft diesen fetzigen Song im Kopf, einen Ohrwurm, der einfach nicht verschwinden wollte. Kurioserweise oder wie der Zufall es so wollte, stammt der Hit – wie auch dieses Buch  –  von einem Pianisten. „We Didn’t Start The Fire“ heißt der Hit des Amerikaners Billy Joel, in dem „The Piano Man“ herausragende Personen und Ereignisse der Geschichte in den Strophen aufzählt und aneinanderreiht, einer Chronik gleich. Zu einem Rückblick in eine vergangene Zeit, genauer gesagt in die 1960er-Jahre, lädt der Jazz-Pianist Ketil Bjørnstad mit dem ersten Band seiner Autobiografie ein. Auf eine ganz ähnliche Weise wie sein Kollege Joel. 

Zwei rote Fäden

Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass dies nicht das erste literarische Werk des Norwegers ist. Eine Werkauswahl hat nahezu den selben Umfang wie eine Liste der Alben, die seit Beginn seiner Karriere erschienen sind. Noch bevor die erste Platte 1978 veröffentlicht wurde, hatte Bjørnstad einige Jahre zuvor einen ersten Lyrikband herausgegeben, da war er gerade mal 20 Jahre alt. Dass beides – die Musik und die Literatur – sich wie zwei rote Fäden durch sein Leben ziehen, hat den Ursprung in seiner Kindheit und Jugend, die in dem ersten Teil dieser mehrbändigen Autobiografie – in Norwegen sind bisher vier Bände im renommierten Verlag Aschehoug erschienen – erzählt wird. All jenen, die mit Karl Ove Knausgård opus magnum, der sechsbändigen „Min kamp“-Reihe, im Gegensatz zu mir wenig Lesevergnügen hatten und nun schon leicht aufseufzen, sei versichert: Dieser Norweger schreibt anders – und mit einem ganz anderen Ansatz.

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Anstatt nur das eigene Leben, das Ich und die Familie literarisch auszubreiten und zu sezieren, geht der Blick des Landsmanns weiter – in die Welt hinaus. Zwar berichtet er ebenso von den eigenen Erlebnissen und Erfahrungen und Gedanken. Allerdings nicht ohne die großen Weltereignisse und herausragenden Persönlichkeiten, die sein Leben und das seiner Familie beeinflusst haben, zu vergessen und im Nachrichtenstil in den Erzählfluss oder als Episoden einzubetten. In Norwegen gibt es das erste Fernsehen, sorgt die Königsfamilie regelmäßig für Schlagzeilen, wird vor der Küste Öl gefunden, das später das skandinavische Land einen wirtschaftlichen Boom und Reichtum bringen wird.

Mit seinem Freund Mads diskutiert er rege über Politik, über den Kalten Krieg, das Aufrüsten der USA und der Sowjetunion, die Kennedy-Morde, über Kuba-Krise und Vietnam-Krieg, wobei beide Jungen Sympathien für das östliche Nachbarland, allen voran Ministerpräsident Chruschtschow, hegen. Es sind höchst unruhige Zeiten, es herrscht die Angst vor dem Ausbruch eines Dritten Weltkrieges. Allgemein weisen in der Familie Bjørnstad die politischen Ansichten eher nach links.  Vater Per, der in einem technischen Verlag arbeitet, ist Sozialist, an der Seite seines Freundes Ulf zudem politisch aktiv. Dahingegen ist Mutter Alfhild, die mehrere Jobs gleichzeitig ausübt, sehr eng mit der Welt der Musik und Literatur verbunden.

Zeit des Heranwachsens

Dabei ist es kaum zu glauben, dass der Sport das Leben des jungen Ketil, der mit Übergewicht zu kämpfen hat und am liebsten stets Fünfter sein will, als auf dem Siegertreppchen zu stehen, für immer verändern wird. Waren die Musik und das Klavierspiel nur ein Begleiter, wird beides zu einem Lebensziel, auf das er sich zunehmend fokussiert. Es sind die Wettkämpfe im Eisschnelllauf und Weltmeister Per Ivar Moe, die ihn dazu bringen, mehr Zeit am Instrument zu verbringen und anstatt nur zu spielen vielmehr an der Seite seiner Klavierlehrerin Amalie Lindholm intensiv zu üben. Erfolge zu Wettbewerben und ein Auftritt bei der Königsfamilie sind die Folge. Zehn Jahre – das sind unzählige Kinobesuche aus Leidenschaft zum Film, das sind zwei Umzüge mit der Familie innerhalb Oslos, mehrere Schulen, die Ketil besucht; eine Zeit lang wird er sogar an keinem Unterricht teilhaben, um sich auf das Klavierspiel zu konzentrieren. Den Kauf eines Flügels finanziert er sich mit dem Austragen der Zeitung. Je mehr die Musik Platz in seinem Leben erhält, desto mehr nimmt sie auch in diesem Buch ein.  Zehn Jahre – das ist aber auch eine Zeit des Heranwachsens, der ersten Gefühle für das andere Geschlecht und der erwachenden Sexualität, des allmählichen Loslösens von den Eltern, vom älteren Bruder Tormod und vom späteren Klavierlehrer Robert Riefling sowie zugleich die der Suche nach einem eigenen Weg.

„Er kann nicht Tag für Tag sieben oder acht Stunden üben, nur um die Kopie eines phantastischen Pianisten zu werden, der all diese Dinge selbst bereits kann.“

Bjørnstad erzählt von diesem ereignisreichen Jahrzehnt aus zwei Perspektiven, aus der sehr persönlichen Ich- sowie aus einer entfernten auktorialen Perspektive, in der er sich selbst als „er“ bezeichnet. Trotz dieses weiten und umfassenden Blicks auf die Weltgeschichte und namhafte Persönlichkeiten aus den verschiedensten Bereichen zeichnet er zudem ein vielschichtiges, teils auch melancholisches Bild seiner eigenen Person. Er mag es, unsichtbar zu sein und die Rolle des Betrachters einzunehmen. Intensiv beschäftigt er sich mit Tod und Vergänglichkeit. Seine Gedanken sind poetisch, besinnlich und empfindsam. Warum er begonnen hat, seine Erinnerungen niederzuschreiben, erzählt er zu Beginn in einer sehr berührenden Szene. Sein Blick auf seine Familie und Freunde, vor allem den Charakter seiner Eltern, deren Ehe und das Wesen seines Bruders ist nie entblößend, sondern immer herzlich und liebevoll, manchmal auch mit einem gewissen Augenzwinkern. Es gibt Szenen, bei denen der Leser durchaus auch schmunzeln kann. Wie jene, in der eine Kuh namens Klara eine wichtige Rolle spielt. 

In den letzten Kapiteln wird deutlich, warum Bjørnstad nicht nur Fünfter geworden ist, sondern seit Jahren zu den herausragenden Jazz-Pianisten zählt und auf den Konzertbühnen der Welt zu Hause ist. Es ist dieser unbändige Wille, den eigenen Weg zu gehen, zu spüren. Man kann gespannt sein auf die kommenden Jahrzehnte und Bände, wenn sie wie Band eins auf wundervolle Art und Weise Einblicke in ein spannendes Musiker-Leben mit einer bereichernden Geschichtsstunde verbinden.


Ketil Bjørnstad: „Die Welt die meine war“, erschienen im Osburg Verlag; aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Kerstin Reimers und Andreas Brunstermann;  833 Seiten, 26 Euro

Foto: pixabay

7 Kommentare zu „Ketil Bjørnstad „Die Welt die meine war“

  1. Liebe Constanze, bei den Büchern von Karl Ove Knausgård ist mir die Puste ausgegangen, bevor überhaupt Interesse entstehen konnte. „Die Welt die meine war“ von Ketil Bjørnstad interessiert mich dagegen sehr und ich habe schon ein wenig auf Deine Rezension gewartet. Diese Mischung aus Literat und Musiker finde ich sehr faszinierend. Liebe Grüße aus dem Norden

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    1. Liebe Regina, lieben Dank für Deinen Kommentar. Das kann ich durchaus verstehen. Ich mag Knausgård sehr, allerdings habe ich auch noch nicht alle Bände durch. Was mich bei Bjørnstad fasziniert hat, waren diese Menschlichkeit und dieser wunderbar warme Humor sowie diese Verbindung zwischen der eigenen Biografie und den Weltereignissen. Vielleicht hörst Du mal in seine Musik rein. Viele Grüße in den hohen Norden.

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