Backlist #8 – György Dragomán „Der weiße König“

„(…) ich solle zur Kenntnis nehmen, daß es am Krieg nie etwas Ehrliches gebe.“ 

Der Blick vom Westen in die Länder hinter dem Eisernen Vorhang ging in eine andere Welt. Es gab den Sozialismus, bei dem die Sowjetunion von der Schaltzentrale Moskau die Fäden fest in der Hand hielt. Es gab eine Plan- und Mangelwirtschaft. Die nicht der Ideologie Hörigen flohen, wenn sie konnten, oder wurden geächtet oder kamen hinter Gittern. Der Vater von Dszátá wird eines Tages von zwei fremden Männern abgeholt. Der Elfjährige weiß noch nicht, dass es Mitarbeiter der Securitate, des rumänischen Geheimdienstes, sind, die seinen Vater in ein Straflager bringen werden. Der ungarische Schriftsteller György Dragomán stellt ein Kind als Held in den Mittelpunkt seines 2012 erschienenen Romans „Der weiße König“ und erzählt das Geschehen aus der Sicht des Jungen.

Der Vater in Haft

Aufmerksam wurde ich auf den 1973 in Siebenbürgen geborenen und heute in Budapest lebenden Autor durch seinen Roman „Der Scheiterhaufen“. Ich war von dieser wenn auch düsteren Geschichte begeistert, vor allem von dem Kunstgriff der besonderen Perspektive. Bekanntlich haben Kinder einen anderen Blick auf die Welt, auf Ereignisse und Personen, ist ihre Sprache auch eine eher einfache. Episodenhaft lässt der Autor den Elfjährigen aus der Ich-Perspektive erzählen. Man schreibt das Jahr 1986. In Tschernobyl geschieht die verheerende und folgenreiche Nuklearkatastrophe, die im Westen für Schlagzeilen sorgt, im Osten Europas indes stillschweigend unter den Teppich gekehrt und verharmlost wird. Die Familie hat sich mit der Verhaftung des Vaters, der beim Bau des Donaukanals Strafarbeit leistet, verkleinert. Lagerpostkarten sind die einzigen Lebenszeichen des Mannes. Dszátá hat nur noch seine Mutter an seiner Seite. Seinen Alltag bestimmen die Erlebnisse mit seinen Freunden und die Begegnungen mit Erwachsenen, die teils merkwürdige Züge tragen und absonderliche Verhaltensweisen an den Tag legen. Oft gehören diese auch zu den Versehrten, Opfern und Verlierern der Gesellschaft.

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Wer auch nur wenige Seiten liest, wird erschütternd bemerken, dass die Welt des Jungen von Gewalt und Lügen bestimmt ist. Oft ist vom „totschlagen“ die Rede. Ein Wort, das nicht nur als Drohung zu verstehen ist, sondern sich auch in realer brutaler Gewalt, die nicht vor den Kindern haltmacht, zeigt. Ein Verhalten, das in die Generation der Heranwachsenden weitergetragen wird, die ebenfalls nicht zimperlich mit Ihresgleichen umgehen. Dragomán gibt mit diesem Roman eindrückliche Einblicke in das Leben und den Alltag der Bewohner eines sozialistischen Landes. Die Kinder müssen an Heimatwehr-Wettkämpfen teilnehmen. Es gibt Waren, die nur als Bückware – also unter dem Ladentisch – verkauft wird. Es ist für Schüler Pflicht, im Unterricht den Propaganda-Film über den Fünfjahresplan im Kino anzuschauen. Wer in der DDR aufgewachsen ist und in ihr gelebt hat, wird Parallelen ziehen können. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst und Unterdrückung. Meinungen werden nicht jedem erzählt. Jeder könnte Zuträger des Geheimdienstes sein. Dszátá erweist sich dabei als ein genauer Beobachter, der Stimmungen aufsaugt und auch die Konflikte zwischen den Erwachsenen bemerkt. Beispielsweise jener tiefe Graben in der eigenen Familie. Der Großvater, ein hoher Parteifunktionär, und seine Frau verachten die eigene Schwiegertochter und tun wenig, damit ihr eigener Sohn aus der Haft entlassen wird.

„Und ich griff in meine Hosentasche und umklammerte den weißen König, das kühle Elfenbein schmiegte sich sehr angenehm in meine Hand, und ich wußte, daß ich mich in unseren Kriegsspielen niemand mehr bezwingen würde, denn im Vergleich zu diesem Feldherrn war selbst der am prächtigsten bemalte Bleisoldat nur ein heißer Furz.“

Trotz des episodenhaften Charakters der Handlung – jedes Kapitel erzählt eine Episode – führt ein roter Faden durch das Geschehen: Es ist die Sehnsucht des Jungen nach seinem Vater. Immer wieder wird sowohl die Hoffnung auf eine baldige Entlassung als auch die Befürchtung, er werde entkräftet und krank sterben, geschildert. Das Kind trägt stets ein Foto des Vaters bei sich, später zudem eine Schachfigur, die er in der Wohnung des Botschafters an sich genommen hat, als seine Mutter den Diplomaten um Hilfe für ihren Mann bittet. Dszátá träumt zudem davon, eines Tages mit dem Vater das Meer zu sehen. Doch trotz der Melancholie und Düsterkeit gibt es an einigen Stellen auch durchaus komische Szenen, die einen eigenwilligen Kontrast zu dieser grauen Welt bilden.

Knappe Sprache

Dragománs Sprache ist zwar an die eines Kindes angelehnt, weist allerdings eine faszinierende Poesie auf. Statt knapper Sätze werden diese aneinandergereiht, nur durch ein Komma getrennt. Ein atemloses Erzählen, wie mir erscheint, das indes nicht schwer zu lesen ist. „Der weiße König“ ist ein großer Roman, der im Kopf bleibt ob seines Helden und seiner Geschichte, die besonders, aber zugleich beispielhaft ist für die eines Kindes, das vor dem großen Umbruch in Osteuropa lebt.

PS: Im Februar erscheint ein neues Buch von György Dragomán. Der Band „Löwenchor“ vereint Novellen.

In der Reihe „Backlist“ werden Romane verschiedenster Verlage vorgestellt, die bereits vor einigen Jahren erschienen und womöglich bereits leicht in Vergessenheit geraten sind, doch die es wert sind, dass an sie erinnert wird. Bisher in dieser Reihe veröffentlichte Besprechungen gibt es zu

Carmen Laforet „Nada“

Davide Longo „Der aufrechte Mann“,

Per Petterson „Nicht mit mir“

Agota Kristof „Das große Heft“

Michela Murgia „Accabadora“

Robert Seethaler „Der Trafikant“

John Wray „Die rechte Hand des Schlafes“


György Dragomán: „Der weiße König“, erschienen im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem Ungarischen von Laszlo Kornitzer; 293 Seiten, 12 Euro

Foto: pixabay

 

19 Kommentare zu „Backlist #8 – György Dragomán „Der weiße König“

    1. Ja, „Der Scheiterhaufen“ ist toll, darauf gehe ich ja auch kurz im Beitrag ein. Mit diesem Roman habe ich den Autor ja erst kennengelernt. Schön, dass Du auch Deine Besprechung erwähnst. Viele Grüße

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  1. wie schön, dass du eines meiner Lieblingsbücher so toll hier vorstellst! Für mich gehört es wirklich zu den ganz großen! Ich fand ja auch den späteren „Scheiterhaufen“ recht gut, aber „Der weiße König“ das hatte mich noch viel stärker gepackt und ist mir auch sehr gut im Gedächtnis geblieben. Ich freue mich schon auf seine Novellen!

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    1. Vielen Dank, liebe Elvira, für Deinen Kommentar. Da haben wir ja wieder ein gemeinsames prägendes Leseerlebnis. Ich finde vor allem sehr faszinierend die Kinderperspektive. Viele Grüße nach Berlin

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