Susan Hill „Stummes Echo“

„Und so saßen sie da, versammelt um das kleine, schreckliche Ding (…).“

Oft wird ja die Ansicht belächelt und als naiv abgetan, dass Bücher eine gewisse Macht haben, Leben verändern können. Doch warum sollte es nicht so sein? In ihrem Roman „Stummes Echo“, der bereits 2008 im Original mit dem Titel „The Beacon“ erschienen ist und nun in deutscher Übersetzung vorliegt, erzählt die Engländerin Susan Hill über eine Familie, deren Leben durch ein Buch und fragwürdige Erinnerungen auf den Kopf gestellt wird und das für erhebliche Verwirrung sorgt; inklusive eines Gefühlschaos.

Unterschwellige Spannung

Dabei ist es gar nicht so einfach, dieses kleine wie feine Buch mit seinen etwas mehr als 170 Seiten zu besprechen, ohne allzu viel zu verraten. Denn es liegt eine unterschwellige Spannung darin, obwohl das Geschehen mit einem Schicksalsschlag, aber trotz alledem recht ruhig beginnt. Mays Mutter stirbt. Gerade in dem Moment, als die erwachsene Tochter das Zimmer verlassen hat. Die beiden Frauen sind die einzig verbliebenen Personen auf dem großen Bauernhof, The Beacon genannt. Der Vater ist bereits vor einigen Jahren verstorben. Mays drei Geschwister haben den Hof verlassen und sind ihre eigenen Wege gegangen. Colin heiratet früh und wird selbst Vater. Berenice eröffnet einen Blumenladen. Frank zieht es in die große Stadt London. Während May nach nur einem Jahr Studium in der Hauptstadt wieder auf das elterliche Gut zurückkehrt und all die Jahre über bleibt, obwohl sie ob ihrer Klugheit Chancen auf ein anderes Leben hat, entwickelt sich hingegen Frank zu einem bekannten Journalisten und Autor. Von der großen Wirtschaft mit Tieren, Maschinen und Landarbeitern ist mit der Zeit kaum etwas geblieben, weil die beiden Frauen die harte Arbeit kaum stemmen können und schließlich May die ganze Kraft und Aufmerksamkeit für die Pflege ihrer schwerkranken Mutter braucht. 

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Die Gegenwart und der Rückblick auf die damaligen Geschehnisse wechseln sich ab. Der Leser springt so zwischen den Zeiten und erhält einen Einblick in die wechselvolle, teils auch tragische Geschichte der Familie, die zerrissen wirkt. May hat zu Colin und Berenice ein gutes Verhältnis. Einzig Frank scheint dem geschwisterlichen Quartett nicht wirklich zuzugehören. Schon in der Kindheit fällt er May wegen seines teils rätselhaften Verhaltens auf. Sie bildet den Mittelpunkt dieser Geschichte. Sie ist es, die auf dem Hof geblieben ist, deren Leben ganz anders verlaufen hätte können, die aber mit ihrem Schicksal nicht unbedingt hadert, nur die Einsamkeit fürchtet und nun die Geschwister nach dem Tod der Mutter zusammenruft. Die Begegnung der vier Geschwister ist keine freundliche, in gemeinsamer Trauer versunkene, sondern eher von einer Konfrontation geprägt, die nicht ohne Überraschung und Folgen bleibt. Eben wegen jenes besagten, aufsehenerregenden Buches aus der Feder von Frank.

Unaufgeregt, sinnlich, bildhaft

Hills Sprache bildet einen Gegensatz zu der Spannung, die der Leser von den ersten Seiten wahrnehmen kann. Man spürt, da wird etwas kommen, es gärt und brodelt. Der Stil der englischen Autorin, die in ihrer Heimat vor allem durch ihre Geister- und Kriminalgeschichten bekannt wurde und mehrere Preise erhielt, ist sinnlich und bildhaft. Unaufgeregt und ruhig wird von den vergangenen Geschehnissen sowie den Gedanken und Gefühlen der Protagonisten berichtet. Einiges wird nur angedeutet, so unter anderem auch der Grund für Mays Rückkehr auf den Hof. Von einem „Grauen“ ist da die Rede, das in einer anderen Form auch in Franks Buch zu finden ist. Es bleibt dem Leser überlassen, Lücken zu füllen, Erklärungen zu finden oder zu deuten. Es ist wegen seiner soghaften und nachhaltigen Wirkung keines dieser Bücher, die alles und dabei nichts zu sagen haben.

„Die Leute wussten Bescheid. Die Leute würden reden und anklagen, oder reden und Mitleid haben, reden und sich wundern, reden und starren. Reden.“

„Stummes Echo“ erzählt trotz seines geringen Umfangs viele Geschichten und spricht mehrere Themen an. Der komplexe Roman kann als Buch über eine Familie und das konfliktreiche Leben der vier Geschwister gelesen werden. Gleichzeitig berichtet er über verschiedene Lebensentwürfe und -pfade und über die Macht von zweifelhaften Erinnerungen, die eines Tages den Weg in die Öffentlichkeit finden.  Der Roman ist eine Perle, die zugleich in einer ganz zauberhaften, sehr liebevollen, aber trotz alledem klaren Gestaltung daherkommt. Chapeau Kampa Verlag!

Weitere Besprechungen auf den Blogs „literaturreich“, „Buch-Haltung“ , „Herr Buch“ und „Frau Lehmann liest“


Susan Hill: „Stummes Echo“, erschienen im Kampa Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Andrea Stumpf; 176 Seiten, 18 Euro

Foto: pixabay

8 Kommentare zu „Susan Hill „Stummes Echo“

  1. Ich muss zugeben, dass es mir in diesem Buch ein paar Leerstellen zu viel gab, die dann zu dem Eindruck einer gewissen Beliebigkeit führten. Auch die Geschwister blieben eher schemenhaft. So bin ich leider mit dem Buch nicht warm geworden, aber mal wieder ein schönes Beispiel, wie unterschiedlich wir lesen. LG Anna

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    1. Ja, die Leseeindrücke sind oft verschieden. Aber ich stimme Dir zu, dass es ein paar Leerstellen gibt. Ich fand allerdings den Fokus auf May sehr interessant, vor allem auch die Sprache des Buches. Viele Grüße

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    1. Dieses Buch hat sehr auf mich gewirkt. Vielleicht lese ich es auch ein zweites Mal, schon allein auch wegen der wunderbaren Sprache wegen. Vielen Dank für Deinen Kommentar und viele Grüße

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