Tom Rachman „Die Gesichter“

„Ein Künstler, Charlie, sieht die Welt anders als normale Menschen (…).“

Der Vater – ein berühmter und gefeierter Künstler, die Mutter – nicht minder begabt, aber erfolglos. Mittendrin – der Sohn. Charles, von allen meist nur Pinch genannt, steht zwischen beiden, blickt zu seinem Vater hinauf, während er seiner Mutter, die ihm die meiste Liebe gibt, weitaus weniger Beachtung schenkt. Tom Rachman hat mit seinem neuen Roman „Die Gesichter“ ein bewegendes und kluges Buch geschrieben, in dem jeder Leser seine Geschichte findet und eine besondere Seite mögen wird.

Sohn eifert Vater nach

Rachman, 1974 in London geboren und aufgewachsen im kanadischen Vancouver, ist hierzulande kein unbekannter Autor. Bereits mit seinem Debütroman „Die Unperfekten“ über eine Zeitung und ihre Mitarbeiter in Rom hat er hierzulande Kritiker wie Leser, mich eingeschlossen, überzeugen können. Und auch in seinem neuesten Streich wird die Ewige Stadt, in der Rachman als Auslandskorrespondent für die Nachrichtenagentur Associated Press tätig war, zu einem wichtigen Schauplatz. Hier wächst Pinch auf. Zwischen dem Atelier seines umtriebigen Vaters, ein Workaholic, und seiner Mutter, die ebenfalls schöpferisch tätig ist und sich der Töpferei verschrieben hat. Es kommt, wie es kommen muss. Auch Natalie und Pinch werden von Bear Bavinsky – man denkt wohl angesichts des Namens und der Personenbeschreibung an einen körperlich sehr präsenten Mann – verlassen, der in die USA zurückkehrt und dort eine neue Familie gründet. Nicht ungewöhnlich für den charismatischen Künstler, der nicht nur seinen Ruhm und die Aufmerksamkeit der Kunstwelt und der Kritiker wie die Luft zum Atmen braucht, sondern auch nach der Zuneigung des meist jüngeren weiblichen Geschlechts giert. Sein Sohn, selbst künstlerisch ambitioniert, eifert ihm nach, um schließlich leidlich zu erfahren, dass sein Vater wenig von dem Talent seines Filius hält, ihn sogar abwertet und demütigt; wie er auch dem Schaffen Natalies keinen Deut Aufmerksamkeit schenkt.

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Mit den Jahren wird die kleine Familie zerrissen, die schon zu Beginn nicht frei war von Abgründen. Natalie verlässt ebenfalls Rom, geht nach London, wo ihr allmählicher Absturz beginnt. Eine Tragödie in Zeitlupe, die Pinch erschüttern wird. Er beginnt ein Kunst-Studium und promoviert. Seine Wege führen ihn schließlich nach London, wo er an einem College als Italienisch-Lehrer arbeitet. Die Jahre vergehen, er verliert seinen einstigen Freund Marsden sowie seine erste große Liebe Barrows aus den Augen, seine kurze wie kinderlose Ehe scheitert. Die Leidenschaft für Kunst hat ihn trotz seines recht unspektakulären Lebens jedoch nie verlassen. In dem Ferienhaus seines Vaters in Frankreich, das einst Natalies Mentor gehört hatte, widmet er sich als reifer Mann heimlich seinem eigenen Lebenswerk, mit dem er schließlich der Welt zeigt, dass er seinem Vater nicht nur ebenbürtig ist, sondern ihn vielleicht sogar übertrumpft, obwohl die Kunstwelt dies wohl niemals erfahren wird.

Mehrere Schauplätze

Ja, an dieser Stelle bleibe ich etwas kryptisch, um nicht allzu viel zu verraten. Vielleicht nur soviel: Der überaus kluge Streich Rachmans, um Pinch aus den Schatten seines Vaters herauszuheben, hat viel mit dem Titel der deutschen Übertragung des Romans zu tun; die Original-Ausgabe heißt „The Italian Teacher“ und ist nicht falsch, aber nicht gar so spannend wie der deutsche Titel. Auch das Cover der deutschen Ausgabe, ein richtiger Eyecatcher, finde ich im Übrigen überaus gelungen.

Der britisch-kanadische Autor spannt den Rahmen nicht nur zeitlich weit – von der Kindheit Pinchs in den 1950er-Jahre bis zu seinem Lebensende in der jüngsten Vergangenheit. Auch mit Blick auf die Schauplätze beweist Rachman eine Vorliebe für Vielfalt. Neben Italien, den USA und Kanada führt er seine Leser auch nach Großbritannien und eben nach Frankreich. Ganz verschiedene Orte, die jedoch allesamt förmlich von Kunst aufgeladen wirken, wo entweder die schillernde Kunstszene mit ihren diversen Galerien in stetiger Bewegung ist oder sich die kreativen Schöpfer zurückziehen, um sich in ihren Werken zu versinken.

„Den gefeierten Künstler – der nur sein Werkzeug benötigt und nichts weiter von der Welt will -, den gibt es nicht, hat es vielleicht nie gegeben.“

Wer die Story des Romans nur auf die Vater-Sohn-Beziehung reduziert, tut dem Buch wohl etwas unrecht, erkennt nicht dessen vielschichtige Tiefe. Denn „Die Gesichter“ hat eben viele Gesichter. Das Werk ist sowohl Familien- als auch Entwicklungsroman. Und bewegender für mich war letztlich nicht die Beziehung zwischen Vater und Sohn, sondern zwischen Sohn und Mutter, die schließlich wohl weit mehr Einfluss auf Pinch hat, als der egozentrische Vater. Interessant sind zudem die stetigen Ausflüge in die Welt der Kunst mit interessanten Bemerkungen und Ausführungen, die oft kritisch-ironisch sind und hinterfragen, welche Rolle die Öffentlichkeit auf das Verhältnis zwischen dem Künstler und der Bedeutung seines Schaffens spielt, gerade in der heutigen medialen Welt, in der Scharlatane mehr Aufmerksamkeit erlangen, als sie wirklich verdienen, und wo Werke oft sehr schnell mit dem Siegel „Kunst“ versehen werden und Geld bringen.

Gegen Ende erhält der Roman eine weitere, eher überaus melancholische Nuance.  Sowohl an Bear als auch an Pinch beschreibt der Erzähler das Älterwerden mit all seinen körperlichen Veränderungen. Mit Blick auf ein ganzes Leben stellt sich letztlich die alles entscheidende Frage, was macht man mit seinem Leben, mit seinen Talenten und seiner Leidenschaft. Was für ein großer Roman, der ein Muss ist für jeden Kunstfreund – und darüber hinaus.


Tom Rachman: „Die Gesichter“, erschienen in der dtv Verlagsgesellschaft, in der Übersetzung aus dem Englischen von Bernhard Robben; 416 Seiten, 22 Euro

Foto: pixabay

6 Kommentare zu „Tom Rachman „Die Gesichter“

  1. Diesen Roman mochte ich auch sehr, ebenso wie Rachmans Debüt und „Aufstieg und Fall großer Mächte“. Ich würde alles von ihm lesen, was herauskommt :) Viele Grüße!

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    1. Vielen Dank, liebe Mikka, für Deinen Kommentar und das Lob. Es freut mich, dass die Besprechung gut ankam. Mir hat der Roman ganz wunderbar gefallen. Ich habe noch einen früheren Rachman-Roman im Regal, den ich noch unbedingt lesen will. Viele Grüße

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