Annelies Verbeke „Dreißig Tage“

„Es gibt immer Licht, immer Schatten.“

Alphonse ist ein dufter Typ. Mit ihm ist gut Kirschen essen, womöglich auch Pferde stehlen. Er ist einer, den man sich als Nachbarn wünscht, mit dem man gern ein Bierchen, Weinchen oder ein großes Glas Fassbrause trinken würde. Doch es gibt auch Menschen, die ihn scheel anschauen würden – mit einem Blick der Verachtung, des Hasses. Denn Alphonses Haut ist dunkel, er stammt aus dem Senegal. Dass er in der tiefsten Provinz Flanders lebt, empfindet er als Glück, doch das ist nur von kurzer Dauer. Die flämische Schriftstellerin Annelies Verbeke hat mit „Dreißig Tage“ einen Roman geschrieben, der das Herz des Lesers bricht.

Liebenswert: Ein Held des Alltags

Es ist ihr dritter Roman, für den sie 2015 den Ferdinand-Bordewijk-Preis, mit dem der Autor des besten niederländischsprachigen Prosawerks ausgezeichnet wird, und ein Jahr später den Opzij Literaturpreis erhalten. Das Werk erschien also mit etwas zeitlicher Verzögerung in deutscher Übertragung. Doch noch immer kann es als Buch der Stunde bezeichnet werden; in einer Zeit, in der Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ihre Fratzen unverhohlen öffentlich zeigen können. Dabei fängt alles sehr idyllisch an. Alphonse, einst ein gefeierter Musiker, lebt seit gut einem Jahr mit seiner Freundin Kat auf dem Land, genauer gesagt im Westen Flanderns nahe der französischen Grenze, wo weite Felder, Windmühlen, kleine Städte, verschlafene Dörfer mit leergefegten Gasthöfen sowie Kriegsgräber die Landschaft prägen. Das Paar hat der Stadt Brüssel den Rücken gekehrt, nachdem Kat  ernsthaft erkrankt war. Sie arbeitet als Übersetzerin, er als Maler und Handwerker. Seine Aufträge führen ihn zu den verschiedensten Menschen, denen er mehr gibt als nur ein frisch gestrichenes Zimmer oder einen neu verlegten Fußboden. Er ist ein Held des Alltags, ein Vertrauter, der manche Dinge richtet, der zuhören kann und vermittelt. Er beendet einen Nachbarschaftsstreit zweier verfeindeter Familien, hilft einer älteren Frau, über den Verlust ihres toten Bruders zu kommen, einem Döner-Verkäufer motiviert er, einem wenn auch verrückten Hobby erfolgreich nachzugehen. Eine Autorin bittet ihn um seine Meinung zu einem erotischen Text.

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Teilweise sind die Menschen sehr schräg. Manch einer hat ein Geheimnis, eine besondere Marotte, so dass das Buch nicht frei ist von absonderlichen Szenen. Doch Alphonse fühlt sich zwischen all jenen Typen recht wohl. Allen voran sein Nachbar Willem. Nach dem Tod seiner Frau haben Kat und Alphonse den betagten Französisch-Lehrer ins Leben zurückgeholt. Gemeinsam essen sie zu Abend, bestreiten sie lange Spaziergänge, auch zu den Gräbern des Ersten Weltkriegs, auf denen auch Senegalesen, die als Soldaten in den Reihen der französischen Armee ihr Leben ließen, ihre letzte Ruhe gefunden haben. Ein trauriges Kapitel Kriegsgeschichte, das wohl nicht sehr bekannt ist.

In einem friedlichen Land, mit einer Arbeit, einer Frau, die er liebt, und seiner Leidenschaft zu Musik fühlt Alphonse das Glück. Doch wo Licht ist, da ist auch Schatten. Das Grauen bricht immer wieder hinein – sei es durch Alpträume, Nachrichten von Kriegsschauplätzen oder fremdenfeindlichen Äußerungen, deren Ziel er ist. Seine Mutter und Schwester, die im Senegal leben und mit denen er via Skype kommuniziert, warnen ihn. In einem Lager für Flüchtlinge aus Afghanistan und Syrien, die er mit der Hilfe einer Ärztin unterstützt, sieht er die vielfältigsten Schicksale und erfährt den Hass der Einheimischen. Die Stimmung wird zunehmend gereizter und bedrohlicher.

„Er trinkt seine Suppe aus. Ist fundamentales Glück eine Anmaßung, ein Wahn? Kann es einen genommen werden.“ 

Der Titel des Romans verweist auf die erzählte Zeit. Der Leser erlebt dreißig Tage im Leben von Alphonse, einem unvergesslichen und sympathischen Helden, dessen besondere Biografie ebenfalls geschildert wird. Verbeke, Jahrgang 1976, nutzt geschickt Einschübe und Perspektiv-Wechsel für einen subjektiven Blick anderer Personen auf den Protagonisten. Ihre Sprache hat viele Schattierungen, ist mal lakonisch, mal in einer ergreifenden Ernsthaftigkeit. Sie findet die gezielten Worte für dieses Land und das Wesen seiner Menschen. Die Zeit läuft wie bei einem Countdown rückwärts. Eine leise Ahnung und der Klappentext des Buches verheißen nichts Gutes. Und trotz aller Warnungen ziehen die Geschehnisse des letzten Tages einem den Boden unter den Füßen weg. Eine gewisse Lähmung macht sich breit. Dieses Ende hat eine ähnliche Wirkung wie das tragische Ereignis in dem wunderbaren Roman „Eis“ der finnland-schwedischen Autorin Ulla-Lena Lundberg, den ich ebenfalls sehr ans Herz legen kann.

Viele Formen der Diskriminierung

„Dreißig Tage“ versammelt verschiedene Lebensgeschichten und -wege, die zeigen, wie sich der Mensch in seinem Leben einrichtet, wie er Schicksalsschläge verarbeitet, wie er scheitert, wie er wieder aufsteht, wie zerbrechlich das Glück doch immer wieder ist. Er erzählt vor allem jedoch auch, dass Diskriminierung von Menschen anderer Hautfarbe und aus einer anderen Kultur viele Gesichter hat, sich bereits in kleinen Äußerungen und in unscheinbaren Handlungen zeigt. Mehrfach und in regelmäßigen Abständen wird Alphonse gefragt, woher er „wirklich“ kommt, obwohl er fast sein ganzes Leben Bürger dieses Landes ist, mehrere Sprache spricht, womöglich mehr als manch Einheimischer. Wenn er mit Kat eine Kneipe betritt, verstummen die Gäste. „Dreißig Tage“ ist ein großartiger, sehr berührender Roman über die für uns alle entscheidende Frage: Was tun Menschen den Menschen an – im besten wie im allerschlimmsten Fall.

Birgit Böllinger schreibt auf „Sätze & Schätze“ ebenfalls über diesen Roman.


Annelies Verbeke: „Dreißig Tage“, erschienen im Residenz Verlag, in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Andreas Gressmann; 344 Seiten, 22 Euro

Bild von djedj auf Pixabay

11 Kommentare zu „Annelies Verbeke „Dreißig Tage“

  1. Liebe Constanze, ich habe den Roman dieser Tage auch zu Ende gelesen und bin noch etwas unschlüssig. Vieles von dem, was du schreibst, kann ich bestätigen, vor allem wächst aber einem Alphonse wirklich ans Herz. Ich hadere jedoch mit dem Ende – nicht weil es so traurig ist, sondern weil es dann doch so plötzlich vollkommen kippt. Es war absehbar, dass in diese nur scheinbar heile Welt mit ihren angedeuteten Rissen noch etwas Tragisches hereinbricht – aber irgendwie kam mir das zu unvermittelt. Oder muss es so sein? Ich muss noch drüber nachdenken. Jedenfalls eine schöne Besprechung mit Anregungen für mich.

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    1. Liebe Birgit, vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar. Interessant, dass wir zum selben Buch gegriffen und es nahezu zeitgleich beendet haben. Ja, dieses Ende kommt sehr überraschend und ich hatte angesichts des Klappentextes eine andere Vermutung. Doch dieser Abschluss, den ich gerade in seiner Erzählweise außerordentlich findet, ist weitaus schlimmer, aber für mich nicht unrealistisch, angesichts der Situation, die mit diesem Flüchtlingslager noch bedrohlicher wird, und mit Blick auf eine aktuelle Nachricht aus Mallorca, die es vor einigen Tagen sogar bis in unsere Zeitungen geschafft hat. Viele Grüße

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      1. Stimmt. Beim weiteren Nachdenken: Die Gewaltbereitschaft scheint allgemein höher zu werden bzw. die Schwelle, Gewalt auszuüben, geringer, nicht nur im Zusammenhang mit Rassismus, sondern vielfach – wie schnell jemand angegriffen, verletzt oder sogar sinnlos zu Toe geprügelt wird, das scheint mir zuzunehmen. Insofern natürlich nicht ganz überraschend – und ja, die letzten Seiten, das ist erzählerisch wirklich sehr einprägsam. Danke für den nochmaligen Twist im Denken…

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  2. Toll dass du dir eine meiner Lieblings – Neuerscheinungen ausgesucht hast!
    Ich finde das Buch großartig, sehr klug konzipiert und sehr bewegend. Meiner Schwägerin, die auch Buchhändlerin ist, habe ich es zu lesen gegeben. Auch sie fand es sehr gut, hat aber die gleiche Kritik wie meine Vorkommentatorin: das Ende passt nicht.
    Ich denke schon dass es passt, auch wenn ich mir ein anderes gewünscht hätte.

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    1. Vielen Dank für Deinen Kommentar, liebe Elvira. Interessant, dass wir mal wieder die selbe Lektüre hatten. Ich denke, über dieses wunderbare Buch kann prima diskutiert werden. Für mich war das Ende plausibel und nachvollziehbar, aber unheimlich berührend. Viele Grüße nach Berlin

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  3. Interessant, dass dich das Buch an „Eis“ erinnert. Da wäre ich nicht drauf gekommen, aber jetzt, ja, stimmt. Besonders das erschütternde Ende haben beide Bücher gemeinsam. Vielleicht auch die erschreckende Zwangsläufigkeit der Entwicklung, in die man als Leserin gerne eingreifen würde. Schön, dass du mich an das großartige Buch von Lunberg erinnert hast. Liebe Grüße, Petra

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    1. Das Buch von Lundberg zählt zu meinen Herzensbüchern, unvergessen. Ich habe es vor einiger Zeit auch in unseren Lesekreis hineingebracht. Allen hat es wunderbar gefallen. Es braucht solche, eigentlich recht stille Literatur, die trotzdem erschüttert und durchrüttelt. Viele Grüße

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