Simon Stranger – „Vergesst unsere Namen nicht“

„M wie das Monster, das in jedem von uns ruht.“ 

Ihre Spur zieht sich durch ganz Europa. Es gibt wohl keine größere Stadt, in der sie nicht zu finden sind. Die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig sind Kunstwerk und Mahnmal zugleich. Sie erinnern in nunmehr bereits 24 Ländern an Menschen, die während des Nationalsozialismus verhaftet, deportiert und ermordet oder in den Freitod getrieben worden sind. Auch in der norwegischen Stadt Trondheim gibt es jene Messingtafeln mit den Lebensdaten der Opfer. In eine ist der Name Hirsch Komissar eingraviert. Die Geschichte des jüdischen Ingenieurs, der seine Ausbildung im sächsischen Mittweida absolviert und später als Geschäftsmann und Inhaber eines Modegeschäfts gewirkt hat, ist Teil der Familienhistorie des norwegischen Autors Simon Stranger, der darüber einen preisgekrönten Roman geschrieben hat.

Opfer und Täter

Stranger nennt sein Werk Roman, obwohl dieses Buch, das im Norwegischen den Titel „Leksikon om lys og mørke“ (auf Deutsch: Lexikon über Licht und Dunkelheit) trägt, weit mehr ist als eine rein fiktive Erzählung. Der Norweger geht diesem wunden und schmerzhaften Punkt der Familiengeschichte nach. Komissar ist der Urgroßvater seiner Frau Rikke, der am 7. Oktober 1942 im Gefangenenlager Falstad nahe Trondheim als Sühne für die Aktion einer Widerstandsgruppe mit weiteren Häftlingen erschossen wurde. Auch der Bruder von Komissars Frau Marie wurde während der Besatzungszeit ermordet. Einige Familienangehörige überlebten nur, weil ihnen die Flucht nach Schweden geglückt war. Stranger recherchierte in Archiven, besuchte Angehörige und historische Orte auf.

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Den Opfern setzt er eine weitere reale Persönlichkeit, einen Täter, als Kontrast gegenüber: Henry Oliver Rinnan (1915 – 1947) galt im Frühjahr 1945 in Norwegen als einer der meist gesuchten Männer. Rinnan leitete eine Sonderabteilung der Gestapo namens Lola. Gab er zu Beginn seiner Tätigkeit Informationen über die Haltung und Meinung der Menschen zu den deutschen Besatzern sowie Angaben über Waffenlager und Widerstandsgruppen an die Sicherheitspolizei weiter, so entschied er später selbst über Leben und Tod. In einem Haus im Jonsvannsveien in Trondheim ließ er später Gefangene unerbittlich foltern und töten. Unvorstellbar, aber Tatsache ist, dass dieses Gebäude nach dem Kriegsende das Zuhause von Gerson, dem Sohn von Hirsch Komissar, wurde. Hier lebte er einige Jahre mit seiner Frau Ellen und den beiden Töchtern Jannicke und Grete. Ein Ort der mit Geschichte und Grauen aufgeladen war, an dem noch Spuren der entsetzlichen Verbrechen, so unter anderem Bleikugeln, zu finden waren.

„Die Welt dreht sich weiter, und ich schließe die Augen, denke daran, was aus jenem Vormittag an deinem Stolperstein alles geworden ist, und dann an all die Geschichten, die sich unter den Steinen aller anderen noch verbergen.“

Dicht verwebt Stranger dabei die Lebensgeschichte Rinnans und die eigene Familienhistorie, die sich über vier Generationen und mehr als ein Jahrhundert erstreckt. Der Norweger blickt zurück auf die Emigration Komissars, der aus Russland nach Skandinavien gekommen war, und stellt verzweifelt fest, dass Judenhass selbst 80 Jahre nach dem Holocaust weiter gegenwärtig ist. Trotz dieses unbegreiflichen, unermesslichen und länderübergreifenden Verbrechens, trotz all der intensiven Bemühungen des Erinnerns und Mahnens sowie der Würdigung von Menschen, die in jener dunklen Zeit anderen Hoffnung gaben. Wie jene Gruppe Fluchthelfer, die unter der Bezeichnung Carl Frederiksen Transport rund 1000 Juden und Widerständlern das Leben rettete, in dem sie von Oslo aus deren Flucht über die Grenze ermöglicht hat. Erst 2017 wurden die einstigen Mitglieder mit einer Zeremonie öffentlich gewürdigt und erhielten den internationalen Ehrentitel „Die Gerechten unter den Völkern“. Bis heute warten weitere norwegische Fluchthelfer auf eine ähnliche Ehrung, ist das skandinavische Land noch immer damit beschäftigt, diese Jahre der Besatzungszeit mit all ihren unterschiedlichen Facetten aufzuarbeiten.

Stranger verweist auf eine jüdische Tradition: Ein Mensch stirbt das erste Mal, wenn sein Herz aufhört zu schlagen, er stirbt ein zweites Mal, wenn dessen Namen ein letztes Mal gesprochen oder gedacht wird. Weil sich Sprache als Basis der Erinnerung versteht, lässt der Autor den Buchstaben eine besondere Bedeutung in seinem Buch zukommen. Jedes Kapitel ist einem Buchstaben und Wörtern, die mit jenem Zeichen beginnen, gewidmet. Die Buchstaben von A bis Z geben dem Roman eine Ordnung, da es eine stringente Handlung nicht wirklich gibt. 

Zwei Preise in einem Jahr

Stranger versteht sich dabei als Teil dieser Familienhistorie und der Erinnerungsgeschichte, wenn er über seine Recherchen und die Bedeutung um das Wissen der Ereignisse sowie die Auswirkungen auf das Familienleben und damit auf die folgenden Generationen berichtet. „Vergesst unsere Namen nicht“ bereitete eine sehr intensive, schmerzvolle und aufwühlende Lektüre, bei der man zwischen Trauer und Mitgefühl sowie Erschütterung und Abscheu schwankt. Denn der Leser begleitet sowohl die letzten Wochen, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden im Leben Komissars als auch zugleich jene Jahre, in denen sich Rinnan zu einem kaltherzigen und berechnenden Monster verwandelt, der alles tut, um den Respekt der Besatzer zu erlangen und gleichzeitig Macht über Menschenleben zu fühlen. Während er den Vorfahren seiner Frau mit „Du“ sehr persönlich anspricht, lässt er den Leser mit Hilfe der Fiktion in das Wesen Rinnans hineinblicken. Stranger verschweigt dabei nicht das Ausmaß der abscheulichen Grausamkeiten, die teils sehr detailreich beschrieben werden; der Verlag empfiehlt das Buch für Leser ab 16 Jahren. Diese Gewalt ist auch deshalb so schwer zu ertragen,  weil sie millionenfach geschehen ist – an Kindern, Frauen und Männern, an betagten Menschen, mit deren Tod Teile oder oftmals auch ganze Familien unwiderruflich ausgelöscht wurden. 

Für sein Werk erhielt der 1976 geborene Norweger im vergangenen Jahr sowohl den Buchhändler-Preis seines Landes sowie den nicht minder renommierten Riksmålpris, den Literaturpreis der Sprachvereinigung Riksmålforbundet. Sein eindrucksvolles Buch, dem man gut und gerne noch einen Stammbaum und die Lebensdaten der einzelnen Familienmitgliedern hätte hinzufügen können,  sollte auch hierzulande eine besondere Beachtung erfahren. Denn diese Geschichte ist auch unsere Geschichte und dieser Roman ein großer. 


Simon Stranger: „Vergesst unsere Namen nicht“, erschienen im Eichborn Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Thorsten Alms; 350 Seiten, 22 Euro

Bild von WikimediaImages auf Pixabay

5 Kommentare zu „Simon Stranger – „Vergesst unsere Namen nicht“

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