Erik Fosnes Hansen – „Ein Hummerleben“

„Hier sitzt ihr, als ob nichts passiert wäre. Aber es ist etwas passiert. Jawohl!“

Bekanntlich begleitet Hitze das Lebensende zahlloser Hummer. Aus dem Wasser des unendlichen Meeres gefischt, führt ihr Weg unweigerlich in einen Kochtopf, um später für den Hochgenuss von Feinschmeckern zu sorgen.  Das Krustentier spielt eine wesentliche Rolle im neuen Roman des norwegischen Schriftstellers Erik Fosnes Hansen und findet sich deshalb auch im Titel des Buches wieder. 29 Jahre nach seinem vielbeachteten Bestseller „Choral am Ende der Reise“ und dem darin erzählten Untergang der Titanic widmet sich Hansen erneut dem Thema Vergänglichkeit und Endlichkeit – am Beispiel eines mondänen Berghotels, das schon bessere Tage erlebt hat.

Der Lack ist ab, die Gäste bleiben aus

Das noble Haus Fåvnesheim, hoch oben im norwegische Fjell gelegen, hat seine Glanzjahre längst hinter sich. Der Lack ist ab, die Gäste bleiben aus. Bis auf einige entdeckungsfreudige und trinkfeste Angler aus Dortmund, Prominenz aus dem Tal sowie die eine oder andere Hochzeitsgesellschaft  „verirren“ sich nur wenige Besucher in das architektonisch eindrucksvolle Ensemble mit seinen 132 Zimmern. Mit einer Handvoll Angestellter schmeißen die Großeltern des 13-jährigen Sedd den Laden. Der Junge zählt zur Belegschaft des Hauses und muss Aufgaben wie ein Erwachsener übernehmen – als Küchenhilfe, Guide oder als Page in roter Uniform. Sein Vater ist tot, die Mutter hatte sich frühzeitig aus dem Staub gemacht. Einige Platten und Plakate der „Rolling Stones“ sind neben den Erzählungen der Großeltern die letzten Spuren seiner Mutter, die ihm geblieben sind. Sein Bild seiner Eltern ist unscharf und voller Lücken.

Außer den rührigen Koch Jim, der jedes Essen zu einem Festschmaus werden lässt, und später die jüngere redselige und überaus kesse Tochter eines besonderen Gast-Ehepaars hat Sedd kaum Freunde. Das Sammeln von Briefmarken aus fernen Ländern und später die Fotografie sind die  einzigen Hobbys. Der Junge, der die Musik von Wencke Myhre mag, ist Teil dieses Hotels, das eng verbunden ist mit seiner Familie und der von Tragödien und Geheimnissen durchsetzten Familiengeschichte, deren Wurzeln sowohl nach Indien als auch Österreich führen. Vor allem letzteres Land, die Heimat der Großmutter Elisabeth, kurz Sissi genannt, wirkt auf Sedd, wenn sie ihn als Buberl bezeichnet oder in regelmäßigen Abständen droht, Norwegen und der Familie den Rücken zukehren, um wieder nach Wien zu gehen.

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Dass das Haus wirtschaftlich den Bach runtergeht, merkt Sedd, der als Erzähler über die Ereignisse berichtet, nicht gleich. Weder machen ihn die vielen, an den Großvater gerichteten und ungeöffneten Briefumschläge stutzig, noch schenkt er den Klagen der Großmutter über den „verteufelten Süden“ viel Aufmerksamkeit. Selbst während eines mehrtägigen Ausfluges an der Seite seines Großvaters nach Oslo, bei dem die Geldsorgen der Familie für den aufmerksamen Leser offenbar werden, lassen bei ihm keine Zweifel entstehen. Vielmehr die Geschichte seiner Eltern und ein verschlossener, geheimnisvoller Raum beschäftigen ihn und fordern ihn heraus.

Augenzwinkernde Anspielungen

Auf den Leser wirkt Sedd intelligent und sensibel, dann und wann jedoch sehr altklug, wenn er sein Wissen und die Lebensweisheiten seiner Großeltern ausbreitet, wo er kann. Dadurch entstehen teils recht humorvolle komische Szenen und Passagen, in denen eine gewisse Melancholie mitschwingt. Hansen macht da auch vor seinem nordischen Heimatland und seinen Landsleuten nicht halt, auf die er die eine oder andere augenzwinkernde Anspielung richtet, wenn er beispielsweise von Norwegen als „Land der Skifahrer und Wasserkraftingenieure“ spricht.

„Aber so ist es nun mal, wenn man erst einmal etwas weiß, dann weiß man es und kann es nicht vergessen, nur weil einem diese Kenntnis nicht guttut. Dies ist eines der großen Geheimnisse des Lebens, du kannst dich nicht zwingen zu vergessen, was du weißt.“

Im letzten Viertel des Romans, der zeitlich in den 1980er-Jahren angelegt ist, kippt indes die Stimmung, überschlagen sich regelrecht die Ereignisse. Hansen führt die Handlung zum einem überraschenden Show-down, der tragische und beklemmende, ja schockierende Ereignisse mit sich bringt, als eine Gruppe von Bestattern sich im Berghotel einquartiert. Vergänglichkeit, Endlichkeit und der Tod ziehen sich wie ein roter Faden durch diesen Roman, der indes keine Lektüre für ungeduldige Leser ist. Man sollte dem Geschehen Zeit geben, sich zu entwickeln, um die Hintergründe dieser Familie und ihrem Festhalten an Traditionen und einer scheinbaren Idylle wahrzunehmen. Wie die Hummer im hoteleigenen Aquarium gefangen sind, so sind Sedd und seine Großeltern gefangen in ihren realitätsfernen Vorstellungen und einer Zeit, die dem Untergang geweiht ist. Die eingangs erwähnte Hitze wird am Ende des Romans eine Bedeutung haben – so viel sei an dieser Stelle verraten.

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Erik Fosnes Hansen war während der Frankfurter Buchmesse Gast auf dem Blauen Sofa, hier nach dem Gespräch mit Matthias Hüggle

Der Roman ist vielschichtig und sprachlich sehr eindrucksvoll erzählt und reich an Symbolik, Anspielungen sowie Verweisen auf Persönlichkeiten und geschichtliche Ereignisse. Interessant: die Ausflüge in die Welt der Gastronomie und des gehobenen Speisens. Hansen, der mit der erfolgreichen Journalistin und Autorin Erika Fatland („Sowjetistan“, „Die Grenze“, beide Suhrkamp) verheiratet ist, lässt den Leser an seiner langjährigen Erfahrung als Gastro-Kritiker der renommierten norwegischen Zeitung „Aftenposten“ teilhaben.

Eine Ära geht zu Ende

Der Niedergang des Hotels steht symbolisch für das Ende einer Ära. Während damals die Menschen dem heimischen Skiurlaub den Rücken gekehrt haben, um in den sonnigen und exotischen Süden zu reisen, erlebt Norwegen seit einiger Zeit eine weitere Wende: Der Kreuzfahrtschiff-Tourismus hat die atemberaubende Fjord-und-Fjell-Küste des skandinavischen Landes längst erreicht und eingenommen. Das bringt Geld, doch kleine Orte und jene Touristen, die auf altbewährte Art und Weise und wohl mit mehr Zeit und Interesse das Land erkunden wollen, werden in den Hotspots von den Menschenvölkern in der Größe einer Kleinstadt nahezu überschwemmt. Attraktionen wie der Preikestolen oder das Nordkap haben ob des Massenansturms ihre Magie verloren.  Quo vadis Norwegen?, möchte man leise fragen. Aber das wäre wohl ein Thema für einen anderen Roman.


Erik Fosnes Hansen: „Ein Hummerleben“, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel; 384 Seiten, 24 Euro

Bild von Jlanghelle auf Pixabay

7 Kommentare zu „Erik Fosnes Hansen – „Ein Hummerleben“

  1. Ach Gastrokritiker war er also, da hat er sich sein Bäuchlein angefuttert ;-)
    Stehe gerade nach der grandiosen Fosse-Lektüre vor der Frage, was ich nun aus Norwegen lese … Hansen? Ørstavik? Lindstrøm? Schwierig …
    Viele Grüße zu dir und danke für die schöne Rezension!

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  2. habe das Buch jetzt ausgelesen (vorher wollte ich deine Rezension nicht lesen, jetzt aber dafür umso lieber).
    Ich fand die Lektüre sehr amüsant und unterhaltsam und es hat mir große Freude bereitet. Allerdings finde ich, dass der Schluss überhaupt nicht zum Buch passt. Du schreibst selbst, dass die Stimmung kippt, aber für mich ist nicht nur die Stimmung gekippt, sondern auch meine Freude an dem Buch.
    Eigentlich ist es nicht so gut, wenn jemand eine Art Komödie schreibt und zum Schluss wird es dann so richtig tragisch. Gut, sowas kann man dann Tragikomödie nennen, aber ich fand es einfach nicht stimmig. Sehr schade! Ohne dieses Ende hätte mich der Roman voll überzeugt.

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    1. Ich muss Dir, liebe Elvira, da teilweise Recht geben, was die verschiedenen Seiten betrifft. Auf der einen Seite Humor, auf der anderen Seite dieses Ende. Es ist ein Roman, der damit auch schwer zu fassen ist. Dabei hat mir sogar der letzte, spannendere Teil sogar am besten gefallen. Viele Grüße nach Berlin

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