Backlist #13 – Jochen Missfeldt „Solsbüll“

„Das Schweigen steckte tief. Es steckt in den Muscheln. Es steckt in der Erde. Es steckt auch in den Sternen. Es steckt im Mond. Es steckt in der Ostsee.“

Mit ihrem Debüt „Altes Land“ gelang Dörte Hansen 2015 ein immenser Erfolg. Auch ihr aktueller Roman „Mittagsstunde“, 2018 erschienen, kann sich Bestseller nennen. Manchmal ist es schon erstaunlich, warum ein Buch sich übermäßig gut verkauft ein anderes jedoch nicht; letzteres vielleicht sogar etwas in Vergessenheit geraten ist, nicht die Aufmerksamkeit erhält, die es verdient hätte. Dabei hat „Solsbüll“ von Jochen Missfeldt all das, was beispielsweise die Werke Hansens ausmachen: ein norddeutsches Dorf, bewegende Schicksale und die Geschichte, die sich tief in das Leben der Menschen einprägt. Und „Solsbüll“ hat gar noch einiges mehr.

Bereits 1989 veröffentlicht

Erschienen ist der Roman erstmals 1989 im kleinen Verlag Langewiesche-Brandt, der bei Literaturfreunden bekannt für die frühe Veröffentlichung der Gedichte von Sarah Kirsch in Westdeutschland war und erstmals den amerikanischen mehrfachen Pulitzer-Preisträger Robert Frost hierzulande gedruckt hat. 2010 übergab Verleger Kristof Wachinger (1930 – 2018) das Programm dem Verlag C. H. Beck. Wachinger erlebte das Erscheinen der Neuausgabe des Romans von Missfeldt im Jahr 2017 noch, für die er auch ein Nachwort verfasste. Darin berichtet er über die frühe Rezeption des Romans und seine persönliche Verbindung zum Autor, der literarisch zuerst mit Gedichten in Erscheinung getreten war und der mit seinen Werken letztlich im Rowohlt Verlag ein Zuhause fand.

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Solsbüll ist der Name eines Provinzstädtchen, das es nicht wirklich gibt. Missfeldt verortet es in die Nähe der dänischen Grenze und der beiden norddeutschen Städte Kiel und Flensburg. Hier wächst Gustav auf, ein Kriegskind, das seine Eltern nie gekannt hat. Die Mutter stirbt während der Bombardierung Hamburgs, Vater Gustav fällt an der Ostfront im Sommer 1941 in Russland. Bereits dessen Vater, ebenfalls Gustav genannt, erfuhr ein ähnliches Schicksal: Er starb als Soldat in Frankreich, bereits wenige Monate nach Kriegsbeginn im Januar 1915. Großmutter Anne und Tante Gret kümmern sich rührig um das Kind, das von Frauen umgeben heranwächst. Beide sind als Hebammen tätig und in Solsbüll und Umland bekannt und sehr geschätzt. Aufopferungsvoll sorgen sie sich um die Mütter und ihre Neugeborenen. Einige der Wöchnerinnen werden direkt im Haus der Familie betreut. Wie Gustav als Waise früh mit dem Thema Tod konfrontiert wird, erlebt er hier den Beginn und den Zauber des Lebens. Schon früh wird er in die Arbeit einbezogen, später in den Jugendjahren schlägt sein Herz für einige der jungen Frauen höher.

„Nach dem Kaffeetrinken tauchen die Kornfelder aus der Dämmerung auf. Zwei Pferde ziehen eine klappernde Mähmaschine, einen Mähbinder. Der auf dem Sitz ruft die Pferde beim Namen und lässt die Peitsche knallen. Garben rutschen aus dem Garbenbinder und fallen zu Boden. Sie bleiben auf den Stoppeln liegen, tagsüber, abends, nachts, bis der Tau kommt.“

Obwohl der Ort inmitten der tiefsten ländlichen Provinz liegt, bleiben seine Einwohner nicht von den politischen und wirtschaftlichen Ereignissen, von den beiden Kriegen und seinen verheerenden Folgen verschont. Die Weltwirtschaftskrise, das Erstarken des Nationalsozialismus, Antisemitismus, Euthanasie sowie Not und Elend beeinflussen den Alltag der Bürger drastisch. Im Dritten Reich werden die einen zu glühenden Anhänger des Führers, die anderen zu passiven Mitläufern. Einige sind Opfer, deren Leiden tief berühren. Gustavs Tante Rosa flüchtet mit ihrem jüdischen Mann nach Palästina. Das Tochter-Mutter-Gespann Nathan wird in ein KZ deportiert. Friedel Eckstein ist in mehreren „Heil- und Pflegeanstalten“ Todeskandidat. Der Arzt Meggersee, der noch den Weg der NSDAP zu Beginn leidenschaftlich begleitet hat, muss plötzlich ob seiner jüdischen Herkunft um seine Existenz bangen. Nach dem Krieg beginnt bei vielen das große Vergessen, sogar Meggersee fordert, „alles zu den Akten zu legen“. Die Flüchtlinge, die aus den Ostgebieten in den Ort gekommen sind, werden diffamiert und schikaniert. Bürgermeister Steiger nimmt sich vor Kriegsende das Leben, um sich seiner Verantwortung zu entziehen.

Vielleser und Tagträumer

Missfeldt spannt den zeitlichen Rahmen weit. Erzählt wird vom Leben des Helden Gustav, von dessen Geburt, über seine Kindheit und Jugend bis zu seiner Zeit als Erwachsener. Gustav ist Vielleser und Tagträumer, der heimlich Gedichte schreibt, sich in mehrere Frauen gleichzeitig verliebt und durchs Abi rauscht. Geschildert wird auch die frühe Geschichte des Ortes, der aus einem eher städtisch geprägten und einem dörflichen Teil besteht, dessen Gehöfte Namen tragen wie Affegünt oder Güldenholm. Die Eiszeit, die ersten Bewohner, die Rodungen, der deutsch-dänische Krieg – all davon berichtet der allwissende Erzähler. In einigen Passagen übernimmt Gustav die Rolle des Ich-Erzählers. Neben den eindrücklichen Schilderungen von Land und Leuten gibt es Gedichte, Briefe und Auszüge aus Tagebüchern sowie Dialoge, die an Dramen erinnern. Der Roman – als Sammelbecken mehrerer Gattungen und Genres. Das Plattdeutsche findet sich an einigen Stellen. Die zeitlich weit gespannte Handlung und all die vielen Geschichten der Figuren werden episodenhaft und mit Hilfe von Zeitsprüngen erzählt. Der Roman ist autobiografisch geprägt. Missfeldt wurde 1941 im norddeutschen Satrup geboren. Bereits während seiner Zeit als Pilot bei der Bundeswehr erschien ein Gedichtband aus seiner Feder. Nach seinem Studium wandte er sich völlig dem Schreiben zu. Neben seinen Romanen ist er vor allem durch seine Theodor-Storm-Biografie bekannt geworden. Den nach dem berühmten Schriftsteller benannten Preis der Stadt Husum erhielt Missfeldt 2010. 2017 erschien der Roman „Sturm und Stille“ über die Liebesgeschichte zwischen Theodor Storm und seiner Geliebten und späteren zweiten Ehefrau Doris Jensen.

„Solsbüll“ nimmt den Leser mit in das einfache, ländlich und von Ritualen geprägte Leben des Ortes und in den Alltag der Einwohner. Er wird zum Beobachter und eingeweiht in die Sorgen und Nöte sowie das eine oder andere Geheimnis. Die Szenen sind atmosphärisch dicht, die Beschreibungen der Landschaft poetisch, die eben nicht nur platt und weit daherkommt, sondern von kleinen Hügeln, Büschen und Findlingen geprägt wird und meist unter Dunst und Nebel liegt. Es ist ein ganz besonderer Rhythmus, der der Sprache eigen ist. Neben der Melancholie angesichts der dunklen hasserfüllten Zeiten finden sich in dem meisterhaften Roman ein sympathischer lebenskluger Humor und eine tiefe Menschlichkeit. Wer „Solsbüll“ einmal in die Hand nimmt und darin beginnt zu lesen, wird einen Sog spüren und schließlich einen großen und unvergesslichen Familienroman kennen- und liebenlernen, der mehr Aufmerksamkeit und viele Leser verdient, als es bisher der Fall gewesen ist.

Eine weitere Besprechung gibt es jeweils auf den Blogs „Peter liest“ und „Buchpost“.

In der Reihe „Backlist“ werden Romane verschiedenster Verlage vorgestellt, die bereits vor einigen Jahren erschienen und womöglich bereits leicht in Vergessenheit geraten sind, doch die es wert sind, dass an sie erinnert wird. Bisher in dieser Reihe veröffentlichte Besprechungen gibt es zu:

Carmen Laforet „Nada“, Davide Longo „Der aufrechte Mann“, Per Petterson „Nicht mit mir“, Agota Kristof „Das große Heft“ , Michela Murgia „Accabadora“, Robert Seethaler „Der Trafikant“, John Wray „Die rechte Hand des Schlafes“, György Dragomán „Der weiße König“, Einar Már Gudmundsson „Engel des Universums“, Gila Lustiger „Die Schuld der anderen“, James Hanley „Ozean“, Becky Chambers „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“


Jochen Missfeldt: „Solsbüll“, erschienen als überarbeitete Neuausgabe im Rowohlt Verlag, mit einem Nachwort von Kristof Wachinger; 480 Seiten, 22,95 Euro
Bild von Michael Treu auf Pixabay

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