Julia Voss – „Hilma af Klint“

„Vergiss nie, dass du bestimmt bist für das Werk der Zukunft.“ 

Zu Lebzeiten verkannt, ignoriert und belächelt, erhält die schwedische Künstlerin Hilma af Klint (1862 – 1944) erst mehr als sieben Jahrzehnte nach ihrem Tod die respektvolle Aufmerksamkeit und Anerkennung, die ihr Leben und Schaffen verdienen. Nach einer Ausstellung mit ihren Werken im New Yorker Guggenheim-Museum 2018 setzte ihre Wiederentdeckung ein. 1.300 Gemälde, Skizzen und Aquarelle, 26.000 Seiten an Notizen hat sie hinterlassen. Ein reiches Œuvre, das in einem wechselvollen Leben entstanden ist und dem sich die Journalistin und Autorin Julia Voss in einer meisterhaften und akribisch recherchierten Biografie widmet, die viel erzählt über eine bemerkenswerte Künstlerin und die Zeit, in der sie lebte.

Spiritualität als Lebenselixier

Doch was machte Hilma af Klint, die aus einer Adels- und Kapitänsfamilie stammte, so besonders? Mit 44 Jahren wendete sie sich der abstrakten Malerei zu, Jahre bevor Werke anderer Künstler wie beispielsweise Wassily Kandinsky entstanden. Sie habe damit „die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts kräftig durchgeschüttelt“, heißt es an einer Stelle.  Af Klint holte sich ihre Inspiration aus einer besonderen Quelle, die für manche von uns vermutlich etwas befremdlich erscheint. Bereits als Jugendliche nahm sie an spiritistischen Séancen teil, zählte sie zu einem festen Kreis. Sie hörte Stimmen und setzte deren Forderungen in Kunst um. Das Thema Jenseits und die Verbindung zu den Toten beschäftigte sie obendrein. Ihre jüngere Schwester Hermina starb im Alter von nur zehn Jahren. Die Spiritualität und der Gedanke, das Materie und Geist sich ergänzen, begleiteten sie nahezu ein Leben lang. Sie wurde Mitglied der Theosophischen Gesellschaft, fühlte sich der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners (1861 – 1925) verbunden, das geistige Zentrum in Dornach bei Basel suchte af Klint mehrfach auf. Sie kritisierte Materialismus sowie eingefahrene Denkmuster und distanzierte sich vom aufkommenden rechten Gedankengut in ihrem Land. In zwei ihrer Werke sagte sie die Bombardierung Londons und den Bürgerkrieg in Spanien voraus. Sie selbst sah sich auch als Mystikerin.

Hilma

Ihre künstlerische Ausbildung erfuhr sie an der Königlichen Kunstakademie in Stockholm – als eine der ersten Frauen überhaupt und in einer Zeit, in der ihnen jegliche schöpferische Begabung abgesprochen wurde. Sie wurden zwar ausgebildet, sollten aber nie die Aufmerksamkeit der männlichen Kollegen erhalten, selbst wenn diese weit weniger Talent an den Tag legten. Es gab viele dieser Situationen, in denen die Schwedin diese Ungerechtigkeit erleben musste, obwohl sie an Ausstellungen teilnahm, Preise errang, sie sich und ihr Schaffen entwickelte. Konstanten in ihrem Leben sind neben der Spiritualität und der intensiven Beschäftigung mit dem Reichtum der Natur sowie wissenschaftlichen Entdeckungen der Blick auf Mensch und seine beiden Geschlechter. Af Klint widmete sich unter anderem der Figur des Parzifal, der als androgynes  Wesen sowohl männliche als auch weibliche Eigenschaften in sich vereint. Diese Dualität, die durch die beiden Farben Blau und Gelb symbolisiert werden, zieht sich auch durch die Gestaltung des Bandes. Beide Farben, die man auf den ersten Blick und ohne Wissen des Inhalts wohl auch für die Landesfarben Schwedens halten könnte, dominieren das Buch.

„Zehn Gemälde in zwei Monaten, alle zusammen ergeben achtzig Quadratmeter. Achtzig Quadratmeter Malerei, auf denen keine einzige Person zu sehen ist, keine Landschaft, kein Gebäude, kein Boden, kein Horizont, nichts. Dafür leuchten die Farben: Blau, Orange, Violett und Rosa.“

Voss beschreibt die Lebensphasen, setzte sich mit den verschiedenen Werken und Serien sowie dem Werden der Künstlerin auseinander. Nicht minder interessant: die Reisen in mehrere europäische Länder sowie die privaten Beziehungen af Klints, vor allem zu ebenbürtigen und sie unterstützenden Frauen, zu denen sie eine Seelenverwandtschaft spürt – wie Anne Cassel sowie später Thomasine Andersson.

Außerordentliche Recherche

Wer diese umfangreiche Biografie mit ihren rund 600 Seiten zur Hand nimmt und liest, wird viel lernen und verstehen, ihn dank der oft auch bildhaften und atmosphärischen Beschreibungen wie im Rausch lesen und womöglich eine Toleranz und Verständnis im Hinblick auf die ungewöhnliche Herangehensweise der Künstlerin ausbilden. Die Autorin hat einen außerordentlichen Einsatz für ihre Recherche betrieben. Sie lernte Schwedisch, besuchte Archive und widmete sich eben jenen zu Beginn erwähnten 26.000 Seiten an Notizbüchern und Aufzeichnungen. Johan af Klint, Großneffe der Künstlerin und einst Vorsitzende der Stiftelsen Hilma af Klints Verk, nennt es in einem Nachwort zum Buch eine „Herkules-Aufgabe“. Voss‘ Begeisterung für die Schwedin begann, als sie 2008 erstmals einige ihrer Werke in Stockholm sah. Ihr Band beinhaltet ein sehr umfangreiches Quellenverzeichnis, Lebensdaten der Künstlerin sowie zahlreiche Abbildungen von Werken und Fotos, die den Band illustrieren.

Dass af Klints produktives Schaffen erst spät ins Rampenlicht rückte, war auch der Tatsache geschuldet, dass sie verfügte, dass ihre Werke und Dokumente erst 20 Jahre nach ihrem Tod zu sehen sein sollten. Mit ihrem Neffen Erik, mit dem sie einen engen Kontakt pflegte und dem sie zum Haupterben erklärte, begann in der nächsten Generation der Schutz und die Aufarbeitung des Œuvre. Nach einer Ausstellung mit Werken af Klints und weiterer abstrakter Künstler in Los Angeles 1986 sowie einer Schau des Moderna Museet Stockholm, unter anderem 2013 im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen, blieb das Echo kühl und verhalten. Erst die bereits erwähnte Exposition im Guggenheim-Museum brachte letztlich den Durchbruch. Im März dieses Jahres erschien ein Dokumentarfilm der deutschen Regisseurin Halina Dyrschka mit dem Titel „Jenseits des Sichtbaren – Hilma af Klint“. Välkommen tillbaka, Hilma!


Julia Voss: Hilma af Klint – „Die Menschheit in Erstaunen zu versetzen“, erschienen im S. Fischer Verlag; 600 Seiten, 25 Euro

Foto von Kerensa Pickett auf Unsplash

7 Kommentare zu „Julia Voss – „Hilma af Klint“

  1. Ich sah ihre Bilder im Lenbachhaus, seitdem bin ich ein „Fanboy“.
    Das Buch unterlief meinem Radar, bis jetzt. Herzlichen Dank für den Hinweis und die Besprechung!
    Liebe Grüße
    Erich

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