Backlist #15 – Niccolò Ammaniti „Anna“

„Alles Kalte war mit den Großen verschwunden.“ 

Unweigerlich entsteht ein beklemmendes Gefühl. Jene Jahreszahl, jene Ereignisse nach dem Ausbreiten eines Virus. Ein Erreger, der zu einer Atemwegserkrankung, aber auch zu Hautflecken führt. Im Jahr 2020 leben auf Sizilien nur noch Kinder. Die Erwachsenen hat die Seuche, „Die Rote“ genannt, hinweggerafft. Auch die Eltern von Anna und ihrem kleinen Bruder Astor sind bereits tot. Den Weg der beiden Waisenkinder durch eine zerstörte wie grausame Welt begleitet der Leser in dem meisterhaften, allerdings auch düsteren Roman des preisgekrönten Italieners Niccolò Ammaniti.

Kinderbanden streifen durch das Land 

Gleich zu Beginn eine Warnung: Dieses Buch ist keines für sanfte Seelen, es sei denn, sie sind belastbar und können etwas aushalten. Dieses, auf der süditalienische Insel spielend, schildert schreckliche, erschütternde weil grausame Ereignisse. Sizilien ist nicht nur nahezu menschenlos. Das Eiland an der Spitze des „Stiefels“ ist verwüstet, die Infrastruktur und das gesellschaftliche Leben sind komplett zusammengebrochen. Es gibt keinen Strom, kein Fernsehen mehr. Kinderbanden haben besondere Gebäude besetzt oder streifen durch das Land, oft verfolgt von wilden Hunden. Mit ihrem kleinen Bruder lebt Anna zurückgezogen in der Wohnung, die eine sichere Zuflucht bietet. Der kleine Junge ahnt nicht, wie die Welt da draußen tatsächlich ist, weil er abgeschirmt wird von seiner großen Schwester. Ihre Mutter hat ihnen das Handbuch mit den Wichtigen Dingen hinterlassen. Mit Hinweisen, wie die Kinder das Leben bestehen können – überleben können, ohne den wichtigen elterlichen Rat. Die Überreste der Mutter liegen auf dem Ehebett – verziert mit Schmuck und Steinen. 

Eines Tages, während das Mädchen auf Nahrungssuche in der Gegend geht, wird Astor von einer Kinderbande entführt. Die 13-Jährige macht sich auf die Suche nach dem Jungen, den sie unbedingt beschützen will, für den sie die Verantwortung hat und dieser sie auch nachkommen will. Sie findet ihn – fern der Wohnung, als Kind zwischen anderen Kindern, die einer Bande einverleibt wurden. Mit der Unterstützung von dem Jungen Pietro kann Anna ihren Bruder aus dem Kreis der Blauen Kinder befreien. Zusammen macht sich das Trio gemeinsam mit Coccolone, einem Hund mit trauriger Vergangenheit und einst Annas tierischer und bissiger Widersacher, auf den Weg. Ihr großes Ziel: das Festland, Kalabrien, erreichen.

„Im Rucksack hatte sie eine Taschenlampe, ein Feuerzeug, ihr in ein grünes Sweatshirt gehülltes Heft mit den Wichtigen Dingen, ein Küchenmesser und den rechten Oberschenkelknochen ihrer Mutter.“

Sie begegnen Gewalt und Leid, aber auch Menschlichkeit und Freundschaft. Auch der Zusammenhalt und die Hoffnung prägen das Geschehen.  In Rückblicken wird vom Leben der Familien und der einst „normalen“ Zeit erzählt. Der Roman – manche Passagen erinnern gerade mit Blick auf den Beginn einer Pandemie an die aktuellen Zustände – spaltet sich so in ein düsteres Jetzt und eine nahezu vergessene Vergangenheit, wobei die Gegenwart sehr an archaische Zeiten erinnert. Die Kinder in der Siedlung huldigen der Kleinen Riesin wie einer Göttin und überbringen ihr Opfergaben. In einer Szene treiben die Kinder in einem riesigen Einkaufszentrum eine Kuh-Herde in den Abgrund – den urzeitlichen Jägern von einst gleich. Auch die strenge Hierarchie der Erwachsenen findet in der jüngeren Generation ihre Fortsetzung. Die Zeit als Größe für den Ablauf des Tages, des Lebens kennen die meisten Kinder nicht mehr. Anna hat vergessen, wie alt sie ist. Sie ahnt nur, dass sie bald die Seuche ereilen könnte, die sich bereits die Jugendliche „greift“. 

Der Tod – ein ständiger Begleiter 

Ammaniti, Preisträger sowohl des Premio Viareggio (2001 für „Ich habe keine Angst“) als auch des Premio Strega (2007 für „Wie es Gott gefällt“), lässt nichts aus, er geht nicht zimperlich mit dem Leser um, die Szenen sind bildhaft und präzise. Der Umgang mit dem Tod, den verstreuten Leichen sowie der tägliche Kampf ums Überleben sind für die Kinder alltäglich geworden. Das Leid hat sie abgestumpft, die Jüngsten kennen es nicht anders, nichts kann sie noch schockieren. Doch nur Anna und Pietro haben noch Träume. Sie glaubt an eine Welt, in der noch Erwachsene existieren. Er ist hingegen auf der Suche nach speziellen Schuhen, die Schutz bieten. Viel wird in diesen Tagen wieder von Camus‘ „Die Pest“ (1947) gesprochen, bereits „Die Straße“ von Cormac McCarthy (2006) gilt als Klassiker unter den Dystopien. Gern weise ich zudem auf den eindrücklichen Debüt-Roman „Mein Name ist Monster“ der britischen Lyrikerin Katie Hale hin. Dabei ist erstaunlich und interessant, dass dieses Wandern, dieser Zug weniger Personen durch ein zerstörtes apokalyptisches Land vielen Werken dieses Genres eigen ist. Neben dem Krieg sind es Krankheiten, die die Welt auf den Kopf stellen und zu einem lebensfeindlichen Ort werden lassen.  Wer diese erschütternden Romane trotz ihres bedrohlichen Themas schätzt, wird auch diesem Buch besonderen Respekt entgegenbringen. 

In der Reihe „Backlist“ werden Romane verschiedenster Verlage vorgestellt, die bereits vor einigen Jahren erschienen und womöglich bereits leicht in Vergessenheit geraten sind, doch die es wert sind, dass an sie erinnert wird. Bisher in dieser Reihe veröffentlichte Besprechungen gibt es zu:

Carmen Laforet „Nada“Davide Longo „Der aufrechte Mann“Per Petterson „Nicht mit mir“Agota Kristof „Das große Heft“ , Michela Murgia „Accabadora“Robert Seethaler „Der Trafikant“John Wray „Die rechte Hand des Schlafes“György Dragomán „Der weiße König“Einar Már Gudmundsson „Engel des Universums“Gila Lustiger „Die Schuld der anderen“James Hanley „Ozean“Becky Chambers „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“Jochen Missfeldt „Solsbüll“, Maylis de Kerangal „Die Lebenden reparieren“


Niccoló Ammaniti: „Anna“, erschienen im Eisele Verlag, in der Übersetzung aus dem Italienischen von Luis Ruby; 336 Seiten, 20 Euro (als Taschenbuch 12 Euro)

Foto von Rene Bernal auf Unsplash

12 Kommentare zu „Backlist #15 – Niccolò Ammaniti „Anna“

    1. Jedes Buch braucht den richtigen Moment, ich war selbst überrascht, dass es sich auf dieses Jahr bezieht, obwohl ich natürlich wusste, dass es sich dabei um eine Dystopie handelt. Herzliche Grüße gen Berlin

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