„Hier passiert nichts, ohne dass alle Leute es mitkriegen.“
Schriftsteller erschaffen nicht nur literarische Figuren und deren Leben, sondern oftmals auch Orte. In allen sechs Romanen des amerikanischen Autors Kent Haruf (1943 – 2014) ist die fiktive Kleinstadt Holt in Colorado Schauplatz der Handlung. Mit seinem letzten Roman „Our Souls by Night“, 2017 in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Unsere Seelen bei Nacht“ erschienen, setzte in den vergangenen Jahren eine Wiederentdeckung und Würdigung des mehrfach preisgekrönten Verfassers ein. Zuletzt erschien sein Roman „Kostbare Tage“ aus dem Jahr 2013, mit dem er sich auf ergreifende Art einem Tabu-Thema zuwendet: Tod, Abschied und Trauer.
Ein emotionales Thema
Es ist kein Thema, über das sich so nebenbei und allzu locker sprechen lässt, im Café, in der Kneipe, bei Familienfeiern. Und auch die Zeitungen sind nicht unbedingt voll davon. Es ist ein stilles und emotionales Thema, mit dem jeder wohl erst in Berührung kommt, wenn er selbst einen Verlust erlitten hat, der unweigerlich prägt, aber auch stärken kann und uns für viele Dinge des Lebens bewusster werden lässt.
Seit vielen Jahren leben Dad und Mary Lewis glücklich und zufrieden zusammen. Ein Leben ohne den anderen können sich beide nicht vorstellen. Bis eine Krebsdiagnose den eher unaufgeregten Alltag des Paares erschüttert. Dad hat nicht mehr lange zu leben. Vielleicht ein paar Wochen, vielleicht einige wenige Monate stehen noch vor ihm. Mitten im Sommer, wo die Tage so voller Leben sind. Eine Zeit der Erinnerungen, der letzten Wünsche, der Abschiede bricht an. Tochter Lorraine ist aus Denver nach Holt gekommen. Die Hospizschwester, aber auch die Nachbarin Berta May mit ihrer Enkelin, der Pfarrer Lyle sowie Mutter und Tochter Johnson besuchen die Lewis. Auch die Mitarbeiter des Eisenwarenladens, den Dad führte, lassen sich sehen. Nur Sohn Frank bleibt seinen Eltern und seiner Schwester fern. Schon vor langer Zeit hat er sich von der Familie entfremdet, pflegt keinen Kontakt mehr zu ihr.
„Das Licht war inzwischen vom Himmel verschwunden, die Straßenlaternen waren angegangen, und sie fuhr hin und her, von einem Lichtkegel zum anderen.“
Haruf blickt in mehreren Episoden auf das Leben von Dad und Mary zurück, erzählt darüber hinaus von den Schicksalen einer Handvoll Einwohner, mit denen das ältere Ehepaar in Verbindung steht. Und auch da schwingt das Thema Tod und Trauer immer mit. Berta May hat ihre Enkelin aufgenommen, weil diese ihre Mutter verloren hat. Lorraine trauert noch immer um ihre Tochter. An mehreren Personen berichtet der Amerikaner von Konflikten, die ein Leben für immer verändern und prägen können; so vom angespannten Verhältnis zwischen Dad und Frank, von den Auseinandersetzungen in der Familie des Pfarrers.
Haruf erzählt aber auch vom Wert des kostbaren Lebens. Eben weil es Freundschaft, Liebe, Menschlichkeit, Momente des Glücks gibt. Sowie die kleinen Dinge im Leben, die man oftmals erst schätzt, wenn sie verloren gehen. „Kostbare Tage“ rückt das einfache Leben in der Provinz ins Rampenlicht und beweist, dass es oftmals keiner großen Sprache bedarf, um über große und wichtige Themen zu schreiben. Harufs Sprache ist klar, einfach und erzeugt trotz alledem eine Ausdruckskraft und Poesie, die sich auch in den Schilderungen der ländlich geprägten Kleinstadt, umgeben von weiten Feldern, zeigen. Der Amerikaner kennt die Region im Zentrum der USA sehr genau. Hier ist er aufgewachsen, hier ist er auch im Alter von 71 Jahren gestorben. Seit 2017 findet in seiner Heimatstadt Salida alljährlich ein Literaturfestival zu seinen Ehren statt.
Stille Szenen, die nachhallen
Sein 2013 mit dem Originaltitel „Bendiction“ erschienener Roman ist voller stiller Szenen, die lange nachhallen und sicherlich auch den einen oder anderen zu Tränen rühren werden. Wenn Dad und Mary an einem lauen Sommerabend allein auf der Veranda ihres Hauses sitzen oder wenn sie ihn in den letzten Tagen mit Hingabe wäscht. Es berührt sehr, wie Haruf das Schwinden der Kräfte, den Übergang zwischen Leben und Tod schildert. Herzensbücher sind besonders, besonders ergreifend und menschlich. Sie behalte ich in besonderer Erinnerung. Eines dieser Bücher ist nun auch „Kostbare Tage“ von Kent Haruf, für das ich sehr dankbar bin.
Kent Haruf: „Kostbare Tage“, erschienen im Diogenes Verlag, in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von pocciao und Roberta de Hollanda; 352 Seiten, 24 Euro
Foto von Claire Kelly auf Unsplash
Eine wunderbare Besprechung eines zutiefst beeindruckenden Buches. DANKE Dir dafür. LG, Bri
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Ich danke Dir! Ja, das Buch hat mich auch sehr und tief berührt. Hat mich sehr an den Abschied von meiner Mutter erinnert. Viele Grüße
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Mich ebenfalls an den von meiner Mutter <3
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