„Die Welt war dazu da, dass die Menschen litten.“
Einst militärisches Sperrgebiet, heute Sehnsuchtsziel für Abenteuerlustige und vermutlich all jene, die eine Mischung aus Sibirien und Island suchen. Wenig ist wohl hierzulande über Kamtschatka bekannt, über jene Halbinsel mit ihren Vulkanen und Geysiren ganz im nordöstlichen Zipfel Russlands gelegen, umgeben vom Beringmeer und dem Nord-Pazifik. Man wird wohl lange suchen müssen, um sie als Schauplatz in der Literatur zu finden. Das ändert nun das eindrucksvolle Debüt „Das Verschwinden der Erde“ der Amerikanerin Julia Phillips. Darin bringt sie dem Leser die dünn-besiedelte Halbinsel mit ihren vielen Gesichtern und Geschichten näher.
Verschwunden, doch nicht vergessen
Zwei Mädchen, Aljona und Sofia, verschwinden eines Tages spurlos und sind wie vom Erdboden verschluckt. Die Polizei sucht ambitionslos und recht unkoordiniert nach den beiden Schwestern, obwohl es eine Zeugin gibt, die gesehen hat, wie die beiden in ein Auto eines Mannes gestiegen sind. Mit der Zeit verblassen die Suchplakate, werden die Spuren zu den Kindern kalt. Doch im Leben der Einwohner von Petropawlowsk, der Hauptstadt Kamtschatkas, hat das Ereignis tiefe Spuren hinterlassen, sind die zwei Kinder auch Monate später noch immer Gesprächsthema, sorgt der Fall für Unruhe und Angst. Und ihr Verschwinden ist nicht der einzige Fall dieser Art, der für Schlagzeilen sorgt. Bereits seit einigen Jahren gilt eine Jugendliche als vermisst.
Um diese besonderen Ereignisse webt Phillips verschiedene Szenen und Lebensgeschichten von Protagonistinnen, die miteinander in loser oder auch engerer Verbindung stehen. Da ist Ksjuscha, vom Norden Kamtschatkas stammend, studiert sie erfolgreich in Petropawlowsk, wo sie weiterhin unter der Kontrolle ihres Freundes Ruslan steht. Soja, Mitarbeiterin im Naturpark und Frau des Polizisten Kolja, will aus ihrem gleichförmigen Leben als junge Mutter und Hausfrau ausbrechen. Nadja nimmt all ihr Erspartes und verlässt mit ihrer kleinen Tochter ihren Freund Tschegga, um die ärmliche gemeinsame Wohnung hinter sich zu lassen und zu ihren Eltern zu reisen. Jede dieser Geschichten handelt in einem Monat. Ein Jahr umfasst der Roman, der mit dem Verschwinden der beiden Schwestern im August einsetzt, mit Juni und Juli des darauffolgenden Jahres endet. Hier schließt sich der Kreis: Denn in Esso lernt die Mutter von Aljona und Sofia mit Alla die Leiterin des dortigen Kulturzentrums sowie Mutter der verschwundenen Jugendlichen kennen und erhält während ihrer Recherche zu einem Festival einen wichtigen Hinweis zum Aufenthaltsort ihrer beiden Töchter.
„Sich aus purer Dummheit selbst das Herz zu brechen, indem man eine Tür offen oder ein Kind unbeaufsichtigt lässt, um bei der Rückkehr festzustellen, dass verschwunden ist, was einem das Kostbarste war, dieser Schmerz ist einfach zu groß.“
Mit ihrem Debüt stand die Amerikanerin Julia Phillips auf der Shortlist des National Book Award und hat für Begeisterung bei Lesern wie Kritikern gesorgt, der ich mich gern anschließen möchte. Während der Lektüre musste ich sehr oft an den beeindruckenden Roman „Mit Blick aufs Meer“ der Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Strout denken, denn Phillips fährt einen ähnlichen Figurenreigen samt loser zusammenhängender Episoden auf, die durch einen roten Faden verbunden sind. Es entsteht ein dichtes Geflecht aus Begegnungen und Wiederbegegnungen, Ereignissen und Lebensgeschichten, in deren Mittelpunkt vor allem Frauen stehen. Es geht um Konflikte zwischen den Generationen, zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Geschwistern, es geht aber auch um die Suche nach dem perfekten Leben zwischen Aufbruchsstimmung und dem Gefühl, in verkrusteten und traditionellen Strukturen gefangen zu sein. Vor allem ist „Das Verschwinden der Erde“ ein eindrücklicher Roman über Schmerz und Verlust, jene plötzlichen Ereignisse, die ein Leben auf dem Kopf stellen und für immer verändern.
Für Forschungen auf Kamtschatka
Der Roman ist ein spannender und vielschichtiger Pageturner, der mehr Gesellschaftspanorama als Krimi ist. Die Dominanz des Mannes wird hier ebenso verhandelt wie die spannungsreichen und von Vorurteilen beladenen Differenzen zwischen Russen und den Ureinwohnern der Halbinsel, die noch immer versuchen, ihre Traditionen zu bewahren. Phillips, 1988 geboren und Journalistin wie Autorin für verschiedene amerikanische Zeitschriften und Magazine, hat auf Kamtschatka ein Jahr für Forschungen verbracht; mit Unterstützung des Fulbright-Programms der Vereinigten Staaten und der Staatsuniversität Kamtschatka. Ihre enge Bindung an diese ungewöhnliche Region ist ihrem Erstling, der auch immer wieder auf die besondere Landschaft eingeht, deutlich anzumerken. Für ein unspektakuläres Ende nach einer Gefühlsachterbahn wird der Leser indes sehr dankbar sein.
Weitere Besprechungen sind zu finden auf den Blogs „LiteraturLeuchtet“ und „letteratura“.
Julia Phillips: „Das Verschwinden der Erde“, erschienen im dtv Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Roberto de Hollanda und Pociao; 376 Seiten, 22 Euro
Bild von Наталья Коллегова auf Pixabay
von mir gibts auch eine: https://soerenheim.wordpress.com/2021/01/22/anfangs-poetischer-roman-in-kurzgeschichten-der-im-mittelteil-langatmig-wird-das-verschwinden-der-erde-von-julia-phillips/
mE funktioniert dieses Geflecht nicht wirklich so, wie es vll hätte können. Leider, denn die ersten Texte fand ich sehr stark.
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Ich glaube das klingt nach einem Buch für mich :) Liebe Grüße, Sabine
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Schön, dass ich Dich neugierig machen konnte. Liebe Grüße zurück
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