Anne Holt – „Ein Grab für zwei“

„Inoffizielle Macht ist lebensgefährlich.“ 

In jedem Sprichwort liegt ein Fünkchen Wahrheit. Auch in jenem, das besagt, dass Norweger mit Ski an den Füßen geboren werden. Wer sich die Medaillenlisten von Weltmeisterschaften oder den Olympischen Spielen zu Gemüte führt – man denke an die großen Erfolge von Bjørn Erlend Dæhlie oder Ole Einar Bjørndalen -, wird es sehen, wer das Land im Norden kennt, weiß es sowieso. Es gibt wohl keine Familie, in der es nicht für jeden Ski gibt. Schon Kleinkinder erhalten sie als Geschenk. Skifahren ist für die Norweger sowohl Alltag als auch Identitätssport, ein Stolz, den sich die „Krimi-dronningen“ des Landes, Anne Holt, in ihrem neuesten, ins Deutsche übertragenen Roman „Ein Grab für zwei“ annimmt – durchaus auf sehr kritische Art und Weise. 

Doping und ein Toter 

Das Buch ist zugleich Auftakt einer neuen Reihe und Geburtsstunde einer neuen Ermittlerin, die einige Ecken und  Kanten aufzuweisen hat: Selma Falck ist Anfang 50, erfolgreiche Juristin und einst prominente Handballspielerin. Noch immer wird sie um Autogramme gebeten. Doch ihr Leben ist ein einziger Trümmerhaufen, nachdem sie infolge ihrer Spielsucht Geld unterschlagen hat. Ihr Mann und die Kinder haben sich von ihr abgewendet. Ihren Job in einer großen Kanzlei ist sie los, sie lebt mit einem Kater in einer versifften Bruchbude.  Da steht Jan Morell vor ihrer Tür. Der millionenschwere Unternehmer ist Adoptivvater der erfolgreichen Ski-Läuferin Hege Chin, die in wenigen Wochen bei den Olympischen Spielen an den Start gehen soll. Doch eine positive Dopingprobe bringt sie und den norwegischen Langlauf-Verband in die Bredouille. Falck soll im Hintergrund ermitteln und Nachforschungen betreiben. Die Ereignisse überschlagen sich, als  der ebenfalls hoch gehandelte Ski-Athlet Haakon Holm-Vegge, zugleich Falcks Patenkind, tot aufgefunden wird sowie ein bekannter Naturfotograf, Morells Freund aus Kindertagen, als spurlos verschwunden gilt.      

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Wer glaubt, die Auflösung der verschiedenen Ereignisse ist schnell gemacht, irrt gewaltig. Holt legt geschickt Fallstricke aus, jongliert mit verschiedenen Verdächtigen und ihrem Fehlverhalten – wie den beiden stinkreichen Funktionären Sølve Bang und Arnulf Selhus, die mächtig Dreck am Stecken haben.  Außerdem sorgen Auszüge aus einem Drehbuch für weitere Spannung, die letztlich in einen Showdown führt. Mittendrin in dieser anrüchigen Sportszenerie: Selma Falck und ihr eigenes Schicksal. Eine charismatische, indes nicht makellose Ermittlerin, die mit Einar,  Ex-Polizist, Mörder und nunmehr Stadtstreicher und Obdachloser, einen ganz speziellen Ratgeber an ihrer Seite weiß. Ein interessanter Charakter mit tragischer Lebensgeschichte, den man sich – wie den neugierigen und schlitzohrigen Journalisten Lars Winther – in weiteren Folgen dieser Reihe wünscht.        

„Die Sportler haben nur Leistung zu erbringen, Hege. Das weißt du doch. Das System funktioniert nur, wenn ihr euch ins Glied fügt, tut, was von euch erwartet wird, und die Medaillen gewinnt. Euch werden die Ohren vollgetutet mit Wörtern wie Gewinnerkultur, Solidarität und Gemeinschaftslösungen, damit die Wertvollsten unter euch nicht zu sehr in die eigene Tasche wirtschaften. Aber diese Wertevorstellungen führen nur in eine Richtung, Hege.“ 

Anne Holt, Jahrgang 1958, zählt zu den erfolgreichsten und erfahrensten Krimi-Schriftstellerinnen, die wie ihre Heldin Falck Juristin ist, kurze Zeit auch den Posten der norwegischen Justizministerin bekleidete hatte. Seit ihrem Debüt 1993 hat sie weltweit zehn Millionen Bücher verkauft. Mehrere Preise hat sie für ihr Schaffen erhalten, so den „Riverton Preis“ (1994) sowie den Preis des norwegischen Verlages „Cappelen“ (2001). Am 19. Oktober wird ihr der Radio-Bremen-Krimi-Preis verliehen: zum einen für ihre Klarheit, in der sie gesellschaftlich brisante Konflikte in ihren Werken verarbeitet – man denke unter anderem an ihren Roman „In Staub und Asche“ über Rechtsextremismus in ihrem Land -, zum anderen für ihre „liebevolle wie treffsichere“ Figurendarstellung. Mittlerweile sind in Norwegen zwei weitere Folgen der Falck-Reihe erschienen – und im September ganz frisch ein neuer Roman mit der erfahrenen Ermittlerin Hanne Wilhelmsen, in dem Holt das Thema Corona verarbeitet und die Verlagsbranche ins Visier nimmt.        

Betrug und Korruption in Funktionärsetagen 

Auch in „Ein Grab für zwei“ beweist die Norwegerin, wie sie aktuelle Probleme aufbereitet, und das mitunter sehr lehrreich. So erfährt man unter anderem, dass das bei den Ski-Sportlern gefundene Dopingmittel mittlerweile kaum genutzt, aber in der damaligen DDR vielfach Anwendung fand, wie streng überwacht das Leben der Athleten ist, damit sie nicht unter Dopingverdacht stehen. Holt legt den Finger tief in eine Wunde, scheut sich nicht, sowohl über Betrug und Korruption in den Funktionärsetagen im Leistungssport als auch über den Nationalismus in ihrem Heimatland zu schreiben. Norwegen gibt sich nach außen als tolerantes und weltoffenes Land, einige sehen es allerdings nicht gern, wenn eine Athletin mit chinesischen Wurzeln, weder blond noch blauäugig, die Goldmedaillen erringt. 

„Ein Grab für zwei“ bietet hochspannende und clever konstruierte Krimi-Kost mit  Figuren, die facettenreich ausgestaltet sind.  Darüber hinaus zeigt sich der Band in einer attraktiven Optik, die ohne Umschlag auskommt. Der zweite Streich der Falck-Reihe erscheint im Herbst 2022. Die Vorfreude ist groß. 


Anne Holt: „Ein Grab für zwei“, erschienen im Atrium Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs; 440 Seiten, 22 Euro

Bild von David Becker auf Unsplash

2 Kommentare zu „Anne Holt – „Ein Grab für zwei“

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