Von wegen Kummerkasten – Ein Brief an Stine

Liebe Stine,

nun hast Du (ich darf doch Du sagen? In Skandinavien sieht man das ja etwas lockerer, oder?) dieses Buch geschrieben, und ich wollte einfach mal ein paar Zeilen an Dich richten. Nein, nein, Du sollst nicht mein Kummerkasten sein, meine Probleme kennen nur mein Bonsai und mein Tagebuch. Es soll vielmehr um Dein Buch gehen. Eine lange und langweilige Besprechung wollte ich Dir ersparen und auch nicht unbedingt ein mit Filter aufgehübschtes Bild trendig auf Instagram posten (zugegeben: ich bekomme das mit den prächtigen Grünpflanzen und hübschen Cappucchino-Milchkaffee-Tassen eh nicht wirklich gut hin).  Ich klaue mir einfach mal die Idee von Tobias, alias the last man reading von Buchrevier, und schreibe Dir einen Brief, meinen ersten an eine Autorin überhaupt. Mein persönliches Debüt sozusagen.

Velling – ein stiller Ort

Denn schließlich geht es in „Meter pro Sekunde“ um Briefe und das Briefeschreiben. Die Heldin ohne Namen arbeitet in einer Lokalredaktion und ist dort für die Sendungen an den Kummerkasten zuständig. Und weiß Du was: Ich arbeite in einer Lokalredaktion als Redakteurin und habe da mit recht vielen Menschen zu tun, jeder Tag ist anders, anders verrückt. Ich kenne das mit den Leserbriefen, auch wenn die hier meistens politischer Natur oder Danksagungen an Max Mustermann sind. Als ich Dein Buch las, fühlte ich mich irgendwie auch gleich wie daheim. Ich mag stille Orte wie Velling in Westjütland. Das Meer vor der Haustür, die Zahl der Menschen überschaubar. Jeder kennt jeden, Nachbarn sind lebensnotwendig, wie es an einer Stelle so schön heißt. Manche sprechen vom Arsch der Welt, aber der kann ja auch schöne Seiten haben.

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Mit der Fahrschule hatte ich damals auch so meine Probleme. Mein Fahrlehrer hatte immer Erdnüsse gegessen (für die Nerven?) und Cola getrunken (für den Zuckerhaushalt?) und war ziemlich locker – so wie Parkplatzpeter eben.  Aber 87 Fahrstunden bis zur praktischen Prüfung – nee, so viele brauchte ich dann doch nicht. Aber auch ich rauschte einmal durch. Wegen des fehlenden Schulterblicks… auf deutschen Autobahnen kann der schon Leben retten, doch der half nicht, als ich eine Taube in einer Rechtskurve ins Jenseits befördert habe und ich untröstlich war (mein dann doch nicht so netter Fahrlehrer hat mich dafür ausgelacht).

Ach, ich wäre gern Teil des Buches geworden, selbst als Randfigur, die mit Krisser ein Käffchen trinkt, mit Maj-Britt gärtnert, in der Heimvolkshochschule, die es im Übrigen auch bei uns gibt, einen Kurs (wie wäre es mit „Kreatives Schreiben“) belegt. Dem kleinen Sohn der Heldin hätte ich gern neben „Muh“ und schließlich auch „Mäh“ einen weiteren Tierlaut beigebracht: wie  wäre es mit „Wuff“ oder „Miau“; ich mag (große) Hunde und Katzen. Der Kontakt zu Tieren ist wichtig in der Entwicklung eines Kindes.

Ich habe beim Lesen sehr oft schmunzeln müssen über die Kummerkasten-Briefe und die Antworten, die immer auch Einblicke in das Leben der Protagonistin gegeben haben, die witzig, aber auch klug, manchmal auch vorlaut sind. Dabei ist das Leben nicht immer ein lustiger Zeitvertreib, immer wieder schwingt auch eine gewisse Melancholie in dem Buch mit. Ich glaube, so ein Neuanfang an einem fremden Ort, für den sich die Heldin und ihr Mann entschieden haben, ist nicht leicht, wie auch nicht der Alltag als Mutter eines kleinen Kindes – und vor allem als Partnerin an der Seite eines gut aussehenden Mannes, der von den Schülerinnen angehimmelt wird. Und dann all die Sorgen der Schreiber an den Kummerkasten, die von psychischen Problemen, von ihren Gefühlen und Konflikten, von Alkohol-Missbrauch und vom Unverstandenwerden sehr offen und ehrlich erzählen.

Ein Schmuckstück

Stine, jeder von diesen kurzen Texten, aus denen Dein Roman besteht, erscheint wie ein Überraschungsei. Man weiß nie, was am Ende rauskommt, nahezu jeder lässt staunen. Vor allem die umgeschriebenen Lieder aus dem traditionellen Liederbuch der Heimvolkshochschulen sind schon sehr speziell; auch in der deutschen Übersetzung, für die man Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel und seinem Helfer und Kollegen Frank Heibert loben sollte. Den Band, der auch gestalterisch ein richtiges Schmuckstück ist, zieren nach meiner Lektüre nun bunte Fähnchen – auch rote; ich dachte da einfach auch mal an die dänische Flagge. Ich hoffe, Du schreibst an einem neuen Buch. Ich freue mich unheimlich, wenn Bücher aus den Ländern Skandinaviens in Deutschland erscheinen. Viele schaffen es ja leider erst mehrere Jahre nach ihrer Veröffentlichung im Original in unsere Buchläden; wenn überhaupt. Dabei gibt es unzählige Perlen im Norden.

Das solls von mir gewesen sein. Ich wünsche Dir für Dein Buch viele Leserinnen und Leser, die Dir vielleicht auch einen Brief schreiben. Mir fällt da irgendwie die rührige Szene zu Beginn des wundervollen Films „Astrid“ ein, in der die bereits ältere Astrid Lindgren sich über die vielen Briefe von Kindern freut. Wir sollten mehr Briefe schreiben. Allgemein mehr schreiben, mehr die Sprache lieben! Vielleicht ist das ja auch eine der vielen Botschaften Deines Buches, Stine. Jetzt ist aber wirklich Schluss – ich sage „farvel“ mit einem schönen Zitat aus Deinem Roman:

„Alle Menschen haben in sich einen einsamen, dunklen Raum. Stell dir ein Loch am Meeresgrund vor. Wir versuchen, es mit allem Möglichen zu stopfen, mit egal was. Briefmarkensammlungen, Schrebergärten, Rucksackreisen, Schoßtiere, Alkohol, Literatur.“


Stine Pilgaard: „Meter pro Sekunde“, erschienen im Kanon Verlag, aus dem Dänischen von Hinrich Schmidt-Henkel; 253 Seiten, 23 Euro

Foto: blende12/pixabay

10 Kommentare zu „Von wegen Kummerkasten – Ein Brief an Stine

  1. Liebe Constanze, eine ausgezeichnete Idee, eine Rezension so zu „verpacken“. Der Text macht Appetit auf das Buch, muss man sagen.
    Es erinnert verblüffend an ein anderes Dänisches Buch, »Spejl, skulder, blink« von Dorthe Nors; auf Deutsch heißt es wohl »Links blinken, rechts abbiegen«.
    In der Geschichte entdeckt eine in Kopenhagen lebende Jütin nach der gefühlt 100. Fahrstunde, dass sie eigentlich (wieder) nach Jylland gehört.
    Ist schon toll, was so an Literatur aus Skandinavien kommt.

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    1. Hallo Michael, ich danke Dir sehr für Deine lobenden Zeilen – und den Hinweis auf das Buch, ich bin neugierig geworden. Ich stimme Dir da voll und ganz zu, dass der Norden wundervolle Literatur bereithält. Es ist allerdings auch immer eine Frage, welche Titel übersetzt werden und damit auch hierzulande Aufmerksamkeit erfährt. Viele Grüße

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