„Die Stadt war eine einzige wimmelnde, armselige Mietskaserne, und die Wand zwischen einem selbst und allen anderen war so dünn, dass man sie mühelos durchstoßen konnte.“
Er verkauft Möbel und gebrauchte Elektrogeräte. Auch Haushaltsauflösungen spülen etwas Geld in die Kasse. Woher die Ware kommt, ist Raymond „Ray“ Carney egal. Trotz eines eigenen Ladens und Nebengeschäften ist der Möbelhändler fast pleite. Als sein Cousin Freddie ihn zu einem krummen Ding überredet, betritt Ray die gefährliche Welt der glücklosen Kleinkriminellen, der korrupten Cops und skrupellosen Bandenchefs, die er so schnell nicht verlassen will – und kann. Mit „Harlem Shuffle“ (2021) und dem Nachfolgeroman „Die Regeln des Spiels“ (2023) erzählt Colson Whitehead vom Harlem der 60er- und 70er-Jahre und den Gesetzen der Unterwelt, die dort kaum einer entrinnen kann.
Gesellschaftskritische Gangsterstory
Nach seinen preisgekrönten Werken „Underground Railroad“ (2016) und „The Nickel Boys“ (2019) wechselt Whitehead nicht nur den Schauplatz und entführt in den New Yorker Stadtteil Harlem im Norden Manhattans. Er schlägt in „Harlem Shuffle“ einen ungewohnt lakonischen und lässigen Ton an. Seinem großen literarischen Thema bleibt er jedoch treu: Selbst in dieser quirligen Gangsterstory legt er den Finger in die Wunde und schildert Rassismus und strukturelle Ungerechtigkeit. Seinen schwarzen Helden, den Möbelhändler Ray, begleiten zahlreiche Protagonisten, die mal mehr, mal weniger Teil des kriminellen Systems sind: wie der Kleinganove Pepper oder der Bandenchef Miami Joe, der Rays Cousin als Fahrer rekrutiert und dem jedoch trotz seiner Macht kein langes Leben beschieden ist.

Und da sind auch Zippo, der Fotograf schlüpfriger Bilder, der korrupte Polizist Munson und der Juwelier Moskowitz, der Ray lehrt, wie Hehlerware sicher verkauft werden kann. Nicht zu vergessen Rays umtriebige Mitarbeiter und seine Familie. Seine Frau Elizabeth stammt aus gutem Hause und arbeitet in einem Reisebüro, das sichere Touren speziell für Schwarze organisiert. Ray und Elizabeth werden im Verlauf der Handlung Eltern zweier Kinder. Wie ein dunkler Schatten verfolgt Rays Vater das Leben seines Sohnes: ein kleiner Ganove, der in einer Autowerkstatt jobbte, kaum bei seinem Sohn war, sich eher betrank oder auf Fischfang ging und von einem Polizisten erschossen wurde. Der mutterlose Ray wuchs so bei der Tante und an der Seite seines Cousins Freddie auf.
Von Macht und Geld – Die Regeln des Systems
In Zeitsprüngen mit einem Abstand weniger Jahre begleitet der Leser den Möbelhändler von 1959 bis ins Jahr 1976, mit dem schließlich der zweite Roman endet. Ray ist ein ehrgeiziger Mann mit einer traurigen Vergangenheit, der an der Abendschule Betriebswirtschaft studierte, mit der Zeit den einst heruntergewirtschafteten Möbelladen sogar vergrößern und mit seiner Familie in bessere Viertel ziehen kann – auch dank der Einnahmen aus den kriminellen Geschäften. Trotz dieses wenngleich gaunerhaften Aufstiegs: Zufriedenheit und ein Gefühl des Angekommenseins wollen sich nicht wirklich bei ihm einstellen.
Sein Schwiegervater nimmt ihn als Mann und Schwiegersohn nicht ernst. Immer wieder werden ihm als Schwarzer Steine in den Weg gelegt und die gesellschaftlichen Grenzen aufgezeigt. So bleibt ihm unter anderem trotz Schmiergelds der Zutritt zum Dumas Club, einer renommierten Gemeinschaft aus Geschäftsleuten und Rechtsanwälten, verwehrt. Nach und nach muss Ray erkennen, dass das ganze System auf Beziehungen nach der Devise „eine Hand wäscht die andere“ und gut gefüllten Umschlägen basiert. Wenngleich er nie wie sein Vater werden wollte, wird auch er ein Teil dieses dunklen Netzes und sinnt auf Rache.
„Gauner und Normalbürger müssen ab und zu mal zusammenkommen, um sich ihre Lebensentscheidungen zu bestätigen.“
Ob Drogenhandel und Schutzgelderpressung, Raub, Mord und Prostitution. Jede Form der Kriminalität und Gewalt lässt sich in Harlem und damit in Whiteheads Doppel-Werk finden. Und es sind nicht nur die einflussreichen Gangs, die das Sagen haben, ihre Rivalität auf den Straßen auskämpfen. Macht haben auch vermögende Familien wie die Van Wycks, die kräftig im Immobilien-Geschäft mitmischen und darüber entscheiden, welches Haus stehen darf und welches neu gebaut wird. Im zweiten Teil widmet sich Whitehead vor allem dem Thema Brandstiftung, die als perfides Mittel eingesetzt wird, den Wohnungsmarkt zu beeinflussen, ohne Rücksicht auf mögliche Opfer.
Dieser zweite Band ist düsterer und deutlicher von einer Stimmung der Hoffnungslosigkeit durchzogen wie das Vorgängerbuch. Ray, der einige Zeit aus jenem kriminellen System ausbrechen kann, wird tiefer in den Sumpf des Verbrechens gezogen. Er muss nicht nur mit ansehen, wie sein Geschäft in der 125th nach einer Brandstiftung in Flammen aufgeht. Er und seine engen Vertrauten wie Pepper, ein einstiger Freund seines Vaters und im zweiten Teil einer der Hauptfiguren, geraten mehrfach in Lebensgefahr. Gewalt, Elend, die Kriege der Gangs führen letztlich zum Abstieg Harlems, das mehr und mehr verkommt.
„Die eine Gaunerei brachte Chaos, wie zum Beispiel die krummen Dinger und linken Sachen, die für den Niedergang der Stadt verantwortlich waren, und eine andere unsichtbare Gaunerei hielt, wie Schiefer, alles aufrecht, so dass es nicht komplett zum Teufel ging.“
Whitehead, 1969 geboren, ist selbst ein Sohn der Stadt. Er wuchs in Manhattan in einer Familie der oberen Mittelschicht auf und studierte an der Harvard University. Später unterrichtete er an mehreren Universitäten des Landes. 2016 erhielt Whitehead den National Book Award sowie 2017 und 2020 den Pulitzer Prize for Fiction verliehen, was vor ihm in der mehr als 100-jährigen Geschichte des Preises erst drei Schriftstellern gelang.
„Harlem Shuffle“ und „Die Regeln des Spiels“ bilden zusammen großes literarisches Kino. Gemeinsam erschaffen sie ein vielschichtiges lebendiges Panorama von Harlem jener Jahre, dem man nur schwerlich entrinnen kann. Ob es nun um die Weltausstellung im Flushing-Meadows-Park, die Rassenunruhen und Plünderungen in den 60er-Jahren, die Kneipen und Bars und die Möbelmode der damaligen Zeit geht, welche Filme in den Kinos liefen, welche Musik gespielt wurde oder wie sich die Stadt rasant veränderte – von all diesen Ereignissen und Erscheinungen erzählen die beiden Romane. Mit dem World Trade Center, Battery Park City und dem Pan Am Building entstehen eine der prägendsten Orte New Yorks. Whiteheads Romane laden zu einer faszinierenden wie lehrreichen Zeitreise ein, die ohne den Ernst der Lage zu verkennen eben gerade an die schmutzigen, gefährlichen und bedrückenden Orte führt.
Weitere Besprechungen sind zu finden auf den Blogs: „BooksterHro“, „LiteraturBlog“ , „LiteraturReich“, „Novellieren“ und „Sounds & Books“.
Colson Whitehead: „Harlem Shuffle“, erschienen im Hanser Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, 384 Seiten, 25 Euro, sowie in einer Ausgabe der Büchergilde Gutenberg, 384 Seiten, 22 Euro; „Die Regeln des Spiels“, ebenfalls erschienen im Hanser Verlag in der Übersetzung von Nikolaus Stingl, 384 Seiten, 26 Euro
Foto: Kidfly 182/wikipedia

