„Unsere Kinder nicht, unsere Eltern nicht, unsere eigene Geschichte nicht, auch unsere Kindheit und Jugend nicht oder unsere Freunde und Freundinnen, die Liebsten nicht; nichts gehört uns.“
Die Liebe lässt sich nicht anhand des Faktors Zeit bemessen. Eine kurze intensive Partnerschaft kann deutlichere Spuren im Inneren hinterlassen als eine Beziehung, die über Jahre und Jahrzehnte andauert. Doch was schmerzt mehr – die Entscheidung des Einen, dass eine Partnerschaft gescheitert ist, oder die Überraschung des Anderen, der danach plötzlich verlassen wird? Tomas, ein Schriftsteller, zählt zu jenen, die zurückgelassen werden. Seine Freundin verabschiedet sich, verlässt die gemeinsame Wohnung. Daraufhin zieht er sich zurück, findet im Alkohol und im Schreiben seinen Trost. In seinen Notizbüchern schreibt er seinen Schmerz nieder. Tomas ist dabei kein fiktiver Unbekannter. Tomas ist Tomas Espedal, der norwegische Schriftsteller und Freund des etwas bekannteren norwegischen Autors Karl-Ove Knausgård, was seinem Roman „Wider die Natur“ auch anzumerken ist.
Doch während der eine seinen autobiografischen getönten Mehrteiler unter dem norwegischen Originaltitel „Min kamp“ auf sechs, sehr dickleibige Bände angelegt hat – der fünfte erscheint am 21. September mit dem Titel „Träumen“ im Luchterhand Verlag, zeigt sich sein Landsmann mit Blick auf den Umfang der Bücher bescheidener. Sein Werk „Wider die Natur“, 2014 im Verlag Matthes & Seitz erschienen und nun vom Suhrkamp Verlag als Taschenbuchausgabe veröffentlicht, umfasst etwa 180 Seiten, Was nicht heißt, dass Espedals Roman weniger eindrücklich ist. Ganz im Gegenteil.
Erzählt wird von den drei Beziehungen, die Tomas in seiner Jugend und im Erwachsenenalter erlebt hat: Die Liebe zu einer Verkäuferin, als er sich als Jugendlicher in den Sommerferien in einer Fabrik Geld verdient hatte, die spätere Ehe mit der Schauspielerin Agnete und die Beziehung zu mehr als 20 Jahre jüngeren Janne. Jede der drei Beziehungen hat ihren ganz eigenen Charakter: Die erste zeigt sich als eine Jugendliebe voller Überschwang. Die zweite geht durch Höhen und Tiefen, bringt das Paar an verschiedene Lebensorte – von der Großstadt Bergen in ein Dorf, wo auch die gemeinsame Tochter Amalie zur Welt kommt, und schließlich bis ins südamerikanische Nikaragua, wo Agnete eine Theatergruppe aufbauen soll. Diese Ehe geht in die Brüche, nachdem sie einen neuen Partner gefunden hat. Mit Janne lebt Tomas einige Jahre zusammen – in einer sehr innig zu nennenden Beziehung, wo die Wohnung das Paar wie einen Kokon umschließt, sie beide sich vollauf genügen und die Außenwelt vergessen. Janne verläßt ihn schließlich; als Grund nennt sie ihre eigene lebenshungrige Jugend, die sie ausleben will, und den großen Altersunterschied, der von Tomas immer wieder als „wider die Natur“ bezeichnet wird.
Tomas bleibt zurück. Seine Notizhefte bilden eine Art Chronik und Spiegel seiner Gemütszustände. Die Einsamkeit, das Fehlen der wichtigsten Person an seiner Seite zerrüttet ihn zunehmend. Er nimmt einige Kilogramm ab und die eigene Körperpflege nicht mehr allzu ernst. Im Alkohol ertränkt er seinen Kummer. Und schonungslos berichtet er darüber. Nichts erscheint ihm peinlich. Oder schmerzvoll, um es zu beschreiben: Denn da sind nicht nur die gescheiterten Beziehungen, sondern auch der allzu frühe Tod seiner Ex-Frau, deren Asche er in einer Urne nahe des gemeinsamen Hauses vergräbt. Eine Szene, die sowohl erschüttert, als auch die Urkraft des Lebens vor Augen führt.
„Das größte Glück besteht vielleicht darin, dass etwas unverändert bleibt.“
Nicht nur die gemeinsame Freundschaft verbindet Espedal mit Karl-Ove Knausgård. Als ich „Wider die Natur“ las, zog ich Parallelen zum zweiten großen Norweger. Auch Espedal schreibt über sich selbst – über die größte Freude wie den größten Schmerz, über Ängste und Sorgen. Doch stilistisch geht er einen anderen Weg: Seine Sätze sind kurz, oft wiederholen sich auch Worte, so dass ein ganz eigener Rhythmus entsteht. Zudem bettet er eine historische wahre Begebenheit ein – die verbotene und später geächtete Liebe zwischen dem mittelalterlichen Denker Abaelard (1079 – 1142) und seiner Schülerin Heloise. Immer wieder thematisiert auch Espedal sein eigenes Schreiben, das wie bei seinem Freund neben der Familie und der Liebe wichtiger Lebensinhalt und Lebensaufgabe ist. Auch er braucht Rückzugsorte, andere Wohnungen oder wie in Nikaragua ein leer stehendes Hotel, um sich gerade vom oftmals hektischen Familienalltag zurückziehen – in die Stille, um die eigene Sprache zu finden. Seine Notizbücher sind allerdings nicht nur Auffangbecken für seine Gedanken und Gefühle; sie sind auch Schreibübungen, Quelle für die „richtigen“ Bücher.
Vielleicht sind Knausgård und Espedal in ihrem kreativen Schaffen wie Zwillinge. Beide widmen sich den großen Themen des Lebens, die sie aus ihrer ganz eigenen Sicht und Sprache beschreiben. Kein Erzähler drängt sich zwischen Autor und Geschichte, vielmehr ist der Autor Teil seiner eigenen Story, die sein Leben, Lieben und Schreiben erzählt. Wenn dies dem Autor gelingt, ohne in die Banalität abzugleiten, vielmehr das eigene kleinere Ich in einem größeren Zusammenhang des Lebens mit all seinen Erscheinungen in Beziehung zu setzen, ist das große Kunst. Und das ist „Wider die Natur“ unzweifelhaft. Einmal mehr zeigt sich das Land im hohen Norden als Entstehungsort bemerkenswerter Literatur, die die größeren Dinge und Zusammenhänge weit intensiver beschreibt als es womöglich die Literatur anderer Länder vermag. Denn Espedal und Knausgård sind nicht allein. Da gibt es noch eine ganze Reihe weiterer großer Namen wie Lars Saabye Christensen, Jan Kjærstad, Ketil Bjørnstad, Jon Fosse oder Per Petterson, die trotz der Knausgård-Euphorie nicht vergessen werden sollten. Und wer Espedal mag, kann nun nach seinem neuesten Werk ins Deutsche übersetzt greifen – mit dem Titel „Wider die Kunst“ im Verlag Matthes & Seitz erschienen.
Der Roman „Wider die Natur“ von Tomas Espedal erschien nun als Taschenbuch im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel; 179 Seiten, 8,99 Euro
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