Claire Fuller – „Jeanie und Julius“

„Immer derselbe Weg, den Hügel hoch und wieder runter.

Es ist ein kalter Aprilmorgen, in der Nacht hat es noch einmal Schnee gegeben. Doch Dot wird ihn nicht mehr sehen. Jeanie und ihr Zwillingsbruder Julius finden nach dem Aufstehen ihre tote Mutter.  Von heute auf morgen müssen die beiden Geschwister allein zurechtkommen. Sie sind bereits 51 Jahre alt, doch ein selbstständiges Leben haben sie nie wirklich geführt. Ihre Mutter hat sie nach dem Tod des Vaters von der Welt regelrecht abgeschirmt, die Familie gilt als Außenseiter.

Am Rande der Gesellschaft

Mit einem Paukenschlag beginnt der nach den Zwillingen benannte Roman der britischen Autorin Claire Fuller – und es wird nicht der einzige bleiben. Wie auf einer Perlenkette reiht Fuller Gegebenheiten und Ereignisse aneinander, die nicht nur für Spannung sorgen, sondern auch den Leser berühren. Das beginnt schon mit den Helden, die ein Leben führen, das nur schwerlich vorstellbar ist, aber dennoch möglich wäre. Die Welt ist bekanntlich voller Menschen, die ihr Dasein abseits der Öffentlichkeit leben, am Rande der Gesellschaft stehen.

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Das schon etwas marode Cottage der Seeders liegt ein ganzes Stück außerhalb des Ortes Inkbourne in Wiltshire. Die Post kommt schon lange nicht mehr zu ihnen. Während Julius‘ Gelegenheitsjobs etwas Geld in die Familienkasse spülen, sorgen sich Jeanie und ihre Mutter um den großen Garten, wo sie Obst und Gemüse anbauen, das sie verkaufen. Sie haben kein Bankkonto, kein Telefon im Haus, ihr Leben scheint aus der Zeit gefallen zu sein. Jeanie hat als Kind aufgrund eines rheumatischen Fiebers und einer Herzkrankheit die Schule frühzeitig verlassen und kann nicht richtig lesen und schreiben.

Nachdem ihre Mutter gestorben ist, wissen sie sich nicht zu helfen. Sie beerdigen sie kurzerhand im Garten, um Kosten zu sparen und die Behörden zu umgehen. Und sind das nicht schon immense Herausforderungen, fühlen sich die Zwillinge wenig später von den Rawsons, Eigentümer des Cottage, unter Druck gesetzt, allen voran Spencers Ehefrau Caroline, die von Jeanie und Julius plötzlich Miete verlangt.

Existenzangst führt zu Spannungen

Zeit zum Trauern und den wie aus dem Himmel gefallenen Verlust zu verarbeiten, haben die Zwillinge nicht. Ihre Hilflosigkeit und Existenzsorgen führen unweigerlich zu Spannungen in einer sonst engen und vertrauten Geschwister-Beziehung. Mehr und mehr werden sie in die Enge getrieben. Gegenseitig machen sie sich Vorwürfe, Stück für Stück entfernen sie sich voneinander. Julius beginnt eine Liebesbeziehung mit einer Frau, der er immer mal wieder in der Wohnung hilft. Er ist der Welt zugewandt, während Jeanie sich in ihre Welt zurückzieht und kaum die Nähe zu anderen Menschen sucht. Wie ihre Mutter nimmt sie nur ungern Hilfe von anderen an. Was die Geschwister allerdings noch immer verbindet, ist die Leidenschaft zur Musik, in der sie Trost finden, mit der sie Anerkennung erfahren.

Schließlich überschlagen sich die Ereignisse, ihre Existenz ist zunehmend bedroht – trotz der Unterstützung einiger Menschen wie Dots Freundin Bridget oder auch Spencer Rawson, der zu Dot in einer besonderen Beziehung stand, für den Jeanie indes nur Verachtung empfindet.  Doch sie muss nach und nach erkennen, dass ihr Leben auf Lügen aufgebaut ist, die ein selbst bestimmtes und gesichertes Leben unmöglich gemacht haben.

„Am Ende ist es unmöglich, nicht der zu werden, für den die anderen dich zu halten.“

Claire Fuller, 1967 in Oxfordshire geboren, kam spät zum Schreiben. Sie studierte Bildhauerei an der Winchester School of Art und arbeitete vor allem mit den Materialien Stein und Holz. Einige Zeit war sie im Marketing-Bereich tätig. Für ihren 2015 erschienenen Debütroman „Unsere unendlichen Tage“ („Our Endless Numbered Days“) erhielt sie den Desmond Elliott Prize verliehen. Der Roman wurde in elf Sprachen übersetzt. Es folgten „Eine englische Ehe“ und „Bittere Orangen“ (alle Piper). Für „Jeanie und Julius“, 2021 im Original mit dem Titel „Unsettled Ground“ erschienen, bekam Fuller den Costa Book Award.

Unvergessliche Helden

Außenseiter oder Menschen mit besonderen Lebensläufen bevölkern die literarische Welt der Britin. Nicht anders nun in dem sprachlich glänzenden und psychologisch packenden Roman „Jeanie und Julius“, den man mit zunehmender Fassungslosigkeit und Ergriffenheit liest. Die titelgebenden Helden bleiben lange im Gedächtnis, bei deren Lebensweg man sich gewünscht hätte, dass man die Zeit einfach zurückdrehen könnte, um an den entscheidenden Stellen die Weichen anders zu stellen. Was wäre aus Jeanie und Julius geworden, wenn…?

Doch am Ende kommt zu all den tragischen und einschneidenden Überraschungen noch eine hinzu, die wiederum wenigstens für Jeanie Licht in den Alltag bringt. Wie Fuller diese dramatische Geschichte wendet und letztlich für ein kleines Happy End sorgt, vermittelt eine stille Hoffnung trotz eines unendlich scheinenden Wegs durch ein dunkles Tal. Und das ist ebenfalls ungemein berührend.

Weitere Besprechungen auf den Blogs „Lust auf Literatur“, „Bookster HRO“ und „MarieOn“.


Claire Fuller: „Jeanie und Julius“, erschienen im Kjona Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Andrea O‘ Brien, 336 Seiten, 25 Euro

Foto von 🇸🇮 Janko Ferlič auf Unsplash

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