„Mir fallen einfach keine Wörter ein, aber das hier ist ein anderer Ort, und ich brauche neue Wörter.“
Der Band ist schmal und passt in jede Handtasche, vielleicht sogar in eine größere Jackentasche. Auf dem Cover ist eine künstlerische Bearbeitung der Fotografie „Livia“ (1948) des Fotografen Frederick Sommer zu sehen. Ein Mädchen mit Zöpfen, das neugierig, aber auch ernst in die Welt schaut. 2010 erschien die Erzählung „Das dritte Licht“ der irischen Schriftstellerin Claire Keegan unter dem Originaltitel „Foster“ – sowohl im Londoner Verlag Faber und Faber Limited als auch als verkürzte Fassung in der Zeitschrift „New Yorker“. Nach der Verfilmung unter dem Titel „The Quiet Girl“ gab der Steidl Verlag die Erzählung nach einer ersten Ausgabe 2013 nun in einer Neubearbeitung erneut heraus, so dass dieses wundervolle Werk wiederentdeckt werden kann.
Eine andere Welt
Die Handlung, die an einem heißen Sommertag im irischen Clonegal beginnt, ist schnell erzählt. Ein Mädchen wird nach der Frühmesse von ihrem schweigsamen wie schroffen Vater zu einem entfernt verwandten Ehepaar nach Wexford gebracht, abgeliefert wie ein Paket ohne nennenswerten Inhalt. Die Mutter ist mit dem nächsten Kind schwanger, das Geld in der Großfamilie knapp. Die nächste Zeit soll das Kind bei den Kinsellas verbringen. Hier erlebt das Mädchen eine ganz andere Welt. John und Edna geben ihrem jungen Gast all die Aufmerksamkeit und Zuneigung, die sie haben. Das beginnt mit dem Bad, in das das Mädchen gleich zu Beginn gesteckt wird. Eine Verwandlung nimmt ihren Lauf. Das Kind wird gefordert, holt schnell wie der Wind die Post aus dem Briefkasten, hilft Edna im Haushalt.
Die Kinsellas nehmen das Mädchen auf wie ein eigenes Kind, es ist keine Belastung, sondern eine Bereicherung für sie. Ihr Haus ist ein Ort des Friedens, der Zufriedenheit, der zugewandten Gespräche und der Lebensweisheiten – aber auch eines traurigen Geheimnisses, von dem das Mädchen erst durch eine redselige Nachbarin erfährt. Das Kind spürt den Unterschieden zwischen ihren liebevollen Gasteltern und ihrem Zuhause nach. Doch: Das Glück dieses unbekümmerten Sommers ist nur von kurzer Dauer. Eines Tages steht der Vater wieder vor der Tür der Kinsellas. Das Mädchen soll nach Hause zurück. Der kleine Bruder hat das Licht der Welt erblickt. Die Rückkehr der Heldin ins Elternhaus zerreißt einem schier das Herz.
Doppelbödig und poetisch
Erzählt werden die Geschehnisse aus der Perspektive des Mädchens, was der Erzählung schon an sich einen besonderen Reiz verleiht. Kinder schauen ganz anders, unvoreingenommen und neugierig auf die Welt. Die junge Heldin zeichnet zudem eine spezielle Beobachtungsgabe und ein genauer Blick für das unterschiedliche Verhalten der Erwachsenen und ihren Stimmungen aus. Keegans Sprache ist klar und auf das Wesentliche reduziert, trägt jedoch obendrein eine Doppelbödigkeit in sich. Die Feinsinnigkeit und Poesie, bemerkenswert von Hans-Christian Oeser ins Deutsche übersetzt, sucht ihresgleichen.
„Alles verwandelt sich in etwas anderes, verwandelt sich in eine Version dessen, was es vorher war.“
„Das dritte Licht“ zeigt, dass es nicht den großen Bruder Roman braucht, um die ganze Welt einzufangen und um eine Geschichte zu erzählen, die zeitlos und allgemeingültig ist und die im Leser lange nachhallt. Gerade ihre Kurzgeschichten haben die irische Schriftstellerin bekannt gemacht. 1968 als jüngstes Kind einer katholischen Familie geboren, debütierte sie 1999 mit dem Kurzgeschichten-Band „Wo das Wasser am tiefsten ist“ (Original: „Antarctica“). Bereits ein Jahr später erhielt sie den Rooney Prize for Irish Literature. In Deutschland bekannt wurde Keegan mit den Bänden „Liebe im hohen Gras“ sowie „Kleine Dinge wie diese“, ebenfalls in deutscher Übertragung im Steidl Verlag erschienen. Für letzteres Werk stand sie auf der Shortlist des renommierten Booker Prize. Die britische Tageszeitung „The Times“ zählt „Das dritte Licht“ zu einem der 50 wichtigsten Romane des 21. Jahrhunderts.
Weitere Besprechungen auf den Blogs „Buch-Haltung“, Buzzaldrins Bücher und „Schreiblust-Leselust“.
Claire Keegan: „Das dritte Licht“, erschienen im Steidl Verlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser; 104 Seiten, 20 Euro
Foto von Heather Mount auf Unsplash
Danke für diese schöne Besprechung! „Foster“ hat mir auch sehr, sehr gut gefallen, und „Kleine Dinge wie diese“ ebenso. Die Erzählungsbände von Claire Keegan fehlen mir noch.
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Vielen Dank für Deinen Kommentar und die Wertschätzung. Ich denke, ich komme um weitere Lektüre von Keegan nicht drumherum. Viele Grüße und ein schönes Osterfest
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