Emmanuelle Fournier-Lorentz – „Villa Royale“

„Die Toten kommen nicht wieder, und die Lebenden gehen fort.“

Kein Ort, nirgends. Sie sind immer auf Achse, nach nur wenigen Wochen verlassen sie wieder die Stadt, in die es sie zuvor verschlagen hat. Seit dem überraschenden und allzu frühen Tod ihres Vaters ist für Palma nichts mehr, wie es einst gewesen war. Gemeinsam mit ihrer Mutter und den beiden Brüdern Charles und Victor führt sie ein Leben auf der Flucht – und der Trauer. Mit ihrem Debütroman „Villa Royale“ hat die Französin Emmanuelle Fournier-Lorentz eine berührende wie sonderbare Familiengeschichte geschrieben, die von der besonderen Erzählstimme lebt und durchaus auch Spannung enthält. 

Leben passt in den Kofferraum

Die erste Station ist La Réunion, eine Insel im indischen Ozean unweit von Madagaskar gelegen. Weit weg von Frankreich und Paris. Gut 10.000 Kilometer liegen zwischen dem alten und neuen Zuhause. Eine Freundin von Palmas Mutter versorgt Job und Haus mit einem exotischen Garten. Doch nur wenige Monate nach der Ankunft – das elfjährige Mädchen soll wieder die Schule besuchen – heißt es erneut, die Koffer zu packen. Es geht zurück nach Frankreich – auch weil die Gauthiers Großmutter Lakushka näher sein wollen. Fortan reist die Familie in einem Renault R 5 durch das Land, von einer Region in die nächste. Ihr Leben passt in einen Kofferraum, ihr Hab und Gut ist überschaubar. Geld haben sie kaum. Zeit, um sich einzugewöhnen, Freunde zu finden, bleiben Palma und ihren beiden Brüdern nicht, die mit der Zeit an einem verwegenen weil kriminellen Plan stricken.

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Denn erst nach und nach wird klar, was neben der unbändigen Trauer der Grund für die ständigen Umzüge sind: Der Vater hat krumme Geschäfte und horrende Schulden gemacht, die der Gläubiger und Drogenhändler Lanvin eintreiben will. Er setzt die Familie systematisch unter Druck, verfolgt sie wie ein bedrohlicher Schatten. Das soll nun aufhören. Lanvin muss weg. Und die drei Geschwister scheuen sich nicht, gewisse Grenzen zu überschreiten. An einem ihrer unzähligen Stationen klauen sie das Auto eines Lehrers, zuvor haben sie bereits mehrfach Autos aufgebrochen, um sich einfach nur hineinzusetzen. Sie bilden eine verschworene Gemeinschaft, die nichts und niemand auseinanderreißen kann, auch wenn der eine oder andere ein Geheimnis hütet: der Jüngste, Victor, ein unheimlich kluger Klopf, haut plötzlich, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, ab, der ältere Bruder Charles zieht durch die Nächte, bis er eines Tages gänzlich weg ist, aus der Ferne Briefe schreibt.

„Es lag etwas Endgültiges in dem, was geschehen war, es hatte uns gebrandmarkt, und wie Katzen, die immer auf der Hut sind, scheuten wir jede Form von Kontakt mit der Realität, mit Alltäglichkeit, in der nichts neu und alles berechenbar war.“

Es ist schon eine verrückte Geschichte, die Fournier-Lorentz mit der Stimme der jungen Heldin erzählt, die mit einem zeitlichen Abstand von mehreren Jahren auf die damaligen Geschehnisse zurückblickt. Eine Stimme, die schon mit den ersten Seiten sich im Kopf des Lesers festsetzt. Die von diesem ständigen Unterwegssein, dem Leben in Kleinstädten und auf Autobahnen, von der schmerzlichen Trauer, die körperliche wie seelische Spuren hinterlässt, auf eindrückliche Art und Weise erzählt. Melancholie und ein trotziger Humor gehen hier eine spezielle Verbindung ein, umgeben von ganz viel Sprachgefühl, das die Berliner Übersetzerin Sula Textor wunderbar aus dem Französischen ins Deutsche übertragen hat.

Preisgekrönter Erstling

Emmanuelle Fournier-Lorentz, 1989 in Tours geboren, lebt seit 2012 in Lausanne. Einige Jahren arbeitete sie für die Genfer Tageszeitung Le Courrier. Für ihren Erstling, 2022 bei Gallimard erschienen, erhielt sie den Prix Michel-Dentan, eine der renommiertesten literarischen Auszeichnungen der Romandie. Am Ende schließt sich der Kreis: Die Familie kehrt nach Paris zurück; angezogen von der ehemaligen Wohnung mit all ihren Erinnerungen. Darüber hinaus macht sich die Familie Sorgen um Lakushka, der es nicht gut geht. Fournier-Lorentz findet ein versöhnliches Ende für ihre Figuren, wenngleich die Trauer ihnen keiner nehmen kann. Genau wie die Zuneigung, die sie verbindet, sie aneinanderschweißt. „Villa Royale“ erinnert an einen bezaubernden französischen Film, den es unter diesem Titel vielleicht eines Tages geben wird. Die besten Bücher sind jene, die nach einer Fortsetzung rufen, weil man die Helden, ihr Leben, ihre Gedankenwelt nicht verlassen will. So auch dieses.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Wörter auf Papier“.


Emmanuelle Fournier-Lorentz: „Villa Royale“, erschienen im Dörlemann Verlag, in der Übersetzung aus dem Französischen von Sula Textor; 288 Seiten, 25 Euro

Foto von Josh Withers auf Unsplash

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