Jenny Erpenbeck – „Kairos“

„Oder war jeder Mensch nur ein Gefäß, in das die Zeit füllt, was ihr gerade einfällt?“

Im Gegensatz zu Chronos, dem Gott der Zeit, steht Kairos für den richtigen Moment, den glücklichen Augenblick. Ein altgriechischer, religiös-philosophischer Begriff, der schließlich in der Mythologie personifiziert, zu einer, wenn auch nahezu unbekannten Gottheit wurde. „Kairos“ heißt der neue Roman von Jenny Erpenbeck, in dem sie von einer zufälligen, aber auch folgenreichen Begegnung und einem daraus resultierenden Verhältnis zwischen einer jungen Frau und einem verheirateten wie lebenserfahrenen Intellektuellen erzählt. Aber ob jene zufällige Begegnung ein glücklicher Augenblick ist, ist nicht die einzige große Frage, die sich am Ende des eindrücklichen wie überaus klug komponierten Buches stellt.

Eine verhängnisvolle Affäre

Bereits auf Seite 8 im Prolog findet sich der Titel des Romans erklärt. Die Heldin packt den Inhalt einiger Kartons und eines Koffers aus. Bestandsaufnahme ihrer Vergangenheit. Ausgelöst durch eine tragische Nachricht. Mappen, mit Briefen, Kalendern, Collagen, Fotos und Zeitungsartikel gefüllt, werden in Augenschein genommen. Eine Zeitreise nimmt im Rückblick ihren Lauf, die am 11. Juli 1986 an einer Straßenbahn-Haltestelle in Ost-Berlin beginnt. Es ist der Tag, an dem sich Katharina und Hans treffen. Sie ist 19, Setzerin im Staatsverlag mit Studienplänen, er Mitte 50, verheiratet, Vater eines Sohnes, Autor und Journalist, der für den Rundfunk arbeitet. Beide entscheiden sich in nur wenigen Momenten für eine verhängnisvolle Affäre, die mehrere Jahre währen wird. Einst mit Liebe und Leidenschaft begonnen, endet jene Amour fou schließlich in Streit und Schuldzuweisungen, Demütigungen und Gewalt, die jedes noch so starke Gefühl zersetzen lassen. Auch das Versteckspiel – Hans tilgt nach Katharinas Besuchen jegliche ihrer Spuren – sowie das Aufreiben beider zwischen Ehe und Affäre tragen zur Auflösung dieser schließlich toxischen Liebe bei, die zu Beginn allerdings nicht ohne die immerwährende, oft auch vergebliche Suche nach Gemeinsamkeiten auskommt.

Sie schreiben sich Briefe, wenn sie voneinander getrennt sind; so als Katharina dank Ausreisegenehmigung und Visum zur Kölner Verwandtschaft in den Westen fährt. Über seine Rolle als Liebhaber ist Hans zugleich ein Mentor, der seiner jüngeren Geliebten seine Hingabe zur Musik von Haydn bis Eisler sowie das Wissen zur Literatur vermittelt. Der Ältere kennt Heiner Müller persönlich, zitiert Brecht und Becher. Die heimlichen Treffen sind von Kunst und Kultur durchdrungen. Mit Katharinas Gang an das Theater in Frankfurt/Oder kommt eine neue künstlerische Facette hinzu, aber auch jener Keil, der zwischen die Liebenden getrieben wird. Sie, die Lebenshungrige voller Pläne, wird untreu. Die Beziehung bekommt Risse, der ältere Liebhaber schreibt und spricht sich seinen Zorn von der gekränkten, verwundeten, alternden Seele. Seine vorwurfsvollen Gedanken nimmt er auf Tonbändern auf, die er Katharina gibt. Aus dem Charmeur, der seine Frau schon mit anderen Frauen betrogen hat, wird ein Mann voller Bosheit und Hass, dessen widerliches Wesen der Leser gegen Ende nur noch schwer ertragen kann.

„Jenseits von Schuld und Unschuld bei allen Geständigen die Überzeugung, dass es zum einmal gefundenen, richtigen Blick auf die Welt keine Alternative gibt. Auch nicht um den Preis des eigenen Lebens.“

Eingebettet ist diese Beziehung in die letzten Jahre eines mittlerweile verschwundenen Landes. Neben jenen zahlreichen Verweisen und Zitaten auf Literatur und Musik ist es dieses lebendige Zeitkolorit, das diesen Roman mit seiner allseits bekannten Grundgeschichte – alter Mann liebt junge Frau – so auszeichnet und faszinierend macht. Dabei führt die Handlung nicht nur in die letzten Jahre der DDR, die noch wenige Wochen vor dem Mauerfall ihr 40-jähriges Bestehen mit pompösem Massen-Aufmarsch feierte. In der Biografie von Hans – der Vater Nazi, er selbst Mitglied der Hitlerjugend, der sich aber letztlich für ein Leben in Ostdeutschland und ein unrühmliches „Amt“ entscheidet – hat sich auch die düstere Zeit des Dritten Reiches und die daraus resultierende Teilung Deutschlands mit all ihren Folgen eingeschrieben.

„Befreiung“ auf verschiedene Weise

Wer eben jene Zeit der DDR und der friedlichen Revolution, die angesichts von Verhaftungen und Repressalien nicht vollends friedlich war, erlebt hat, wird wohl die eine oder andere Erinnerung verspüren. Wer hingegen dieses Kapitel deutscher Geschichte aus der zeitlichen oder örtlichen Ferne nicht kennt, wird eine interessante Lektion erfahren – dass einst ein System kurzerhand das andere ersetzt hat, dass Lebensbiografien und -leistungen infrage gestellt wurden. Die Hoffnung, dass der Sozialismus gerettet werden kann, erfüllte sich bekanntlich nicht. Ernüchterung und wohl auch Frust machten sich daraufhin breit. Letztlich spiegelt sich die vermeintliche Befreiung in Form der Wendezeit auch in der Heldin wider, die schließlich, wenn auch für immer von der Beziehung mit Hans geprägt, sich von ihm lösen kann.

„Kairos“ beeindruckt durch seine Vielschichtigkeit und doppeldeutigen Anspielungen. Wie Erpenbeck die verschiedenen Stimmen des ungleichen Paares verknüpft, sie zu einem facettenreichen, an Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen reichen sowie sprachmächtigen Teppich werden lässt, ist große Kunst, die womöglich mehrere Lektüren bedarf, um vollständig erfasst zu werden. Ihr Roman, für die die mehrfach preisgekrönte Berliner Autorin (u.a. Fallada-Preis, Mann-Preis, Bundesverdienstkreuz) nun für den Bayerischen Buchpreis nominiert ist, ist ein Buch der Fragen und Zitate, mit denen sich der Leser auseinandersetzen kann und sollte. Egal ob dabei sein Fokus auf der schicksalshaften Beziehung liegt oder auf ein noch immer spannendes Kapitel deutsch-deutscher Zeitgeschichte gerichtet ist.

Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „literaturleuchtet“, „missmesmerized“ sowie „AstroLibrium“.


Jenny Erpenbeck: „Kairos“, erschienen im Penguin Verlag; 384 Seiten, 22 Euro

Bild von Sebastian Mey auf Pixabay

4 Kommentare zu „Jenny Erpenbeck – „Kairos“

  1. Ich kam sehr schwer hinein in das Buch. Es liegt auch noch bei mir auf dem Schreibtisch, weil ich die Rezension vor mir herschiebe. Das Buch beginnt meines Erachtens sehr klischiert und die sexuelle Unterwerfung kam unerwartet und sehr vom Himmel. Fast bin ich geneigt zu sagen, es wäre ohne sie ausgekommen, die Eifersucht hätte genügt. Jedoch das Buch nahm so sehr an literarischer Fahrt auf, dass ich am Ende schlichtweg begeistert gewesen bin. Das Werden und Vergehen um die Figuren herum, das Verschwinden und Auferstehen von Ruinen und Gespenstern, die Hilflosigkeit, die alles prägt, der Strudel der in sich gespaltenen Großstadt, die wie das Paar nicht zueinander finden kann. Es gehört zum Besten, was ich seit längerem gelesen habe. Es beweist wieder einmal, Bücher verdienen es zu Ende gelesen zu werden, selbst wenn man nicht so überzeugt nach Hundert Seiten ist. Danke für die Rezension.

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    1. Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar und die Gedanken zum Buch. Ich glaube, das Buch gewinnt auch durch die Schilderungen jener Zeit und die zunehmende Bedrohlichkeit in dieser toxischen Beziehung und wartet auch mit ein paar Überraschungen auf. Mir hat das Buch sehr gefallen. Manchmal verlangt ein Buch auch ein paar Seiten Geduld ein. Viele Grüße

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  2. In der griechischen Mythologie ist Kairos der Gott vom günstigen Augenblick. Zwei Fachbegriffe leiten sich von Kairos ab, nämlich Kairologie und Kairophobie. Mit Kairophobie ist die Angst davor gemeint, Entscheidungen zu treffen. Das Wort Phobie leitet sich von Phobos ab, dem Dämon der Furcht. Die Kairologie ist eine Wissenschaft und beschäftigt sich mit der Frage vom richtigen Augenblick / Zeitpunkt -> https://www.mythologie-antike.com/t597-kairos-mythologie-gott-vom-gunstigen-augenblick-richtiger-zeitpunkt

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