„Was ist ein Atemzug? Ein Zischen, ein Zeichen von Leben.“
Kriminalromane erzählen meistens nicht nur von Verbrechen und Ermittlungen, von abgebrühten wie brutalen Tätern sowie Polizisten, die mal mehr mal weniger verzweifelt erscheinen. Titel dieses Genres sind oft auch sehr eng verknüpft mit dem Ort ihrer Handlung, der manchmal so genau beschrieben wird, dass man dank der Schilderungen eine Karte zeichnen könnte. Katrine Engbergs Krimi-Reihe führt nach Kopenhagen. Und auch ihr neuester Streich „Das Nest“ lässt einen nahezu die Koffer packen, um in die Hauptstadt Dänemarks, der Heimat der Autorin, zu reisen.
Eine Leiche und ein verschwundener Junge
Dabei ist die Stadt mit der berühmten Meerjungfrau alles andere als eine friedliche Idylle. Denn die beiden Ermittler Anette Werner und Jeppe Kørner haben es gleich zu Beginn mit zwei Fällen zu tun, die auf den ersten Blick nichts verbindet. Ein junger Mann wird tot in einer modernen Müllverbrennungsanlage aufgefunden. Zudem wird Oscar, der 15-jährige Spross eines bekannten wie betuchten Galeristen-Ehepaares, vermisst. Erste Spuren führen zu der beunruhigenden Erkenntnis, dass es sich bei dem Toten um Malthe Sæther, den beliebten Deutschlehrer des Jungen, handelt – und dass Oscars Eltern ihre umtriebigen Geschäfte nicht gerade mit einer blütenweißen Weste führen. Als eine ältere Kollegin des Deutschlehrers in einem Bahnhof ums Leben kommt, ahnen Jeppe und Anette schnell, dass es sich nicht um einen Unfall handelt und dieser Fall weite Kreise zieht und recht verzwickt ist.
„Das Nest“ ist nach „Krokodilwächter“, „Blutmond“ und „Glasflügel“ bereits der vierte Band von Engbergs Kopenhagen-Reihe und bietet eine Wiederbegegnung mit dem engagierten Ermittler-Team sowie mit der charismatischen Figur der Esther de Laurenti, die – nur noch mit einem Mops an ihrer Seite – erneut nicht unwesentlich zur Aufklärung des Falls beiträgt. Das Privatleben von Jeppe und Anette nimmt erneut viel Raum ein. Jeppes intimes Verhältnis mit seiner Kollegin Sara, die ihre beiden Töchter in die Beziehung bringt, bekommt Risse. Anette hingegen fühlt sich zu Mads Teigen hingezogen, einem Fortmeister, der auf der Insel Trekoner nahe dem Kopenhagener Hafen lebt und arbeitet und ein eigentümliches Hobby pflegt. Sie hadert mit ihren Gefühlen und Gedanken, da sie doch sicher ist, ein glückliches Leben mit Svend und ihrer kleinen Tochter Gudrun zu führen.
„Aus meiner Sicht ist Kunst nicht nur Ästhetik, sondern Erkenntnis, die etwas über das Menschsein aussagt.“
Mit ihrem neuen Roman beweist die Dänin erneut ihre Finesse für clever konstruierte und vielschichtige, themenreiche Plots, bei denen der Leser, völlig vertieft, die Zeit vergessen kann. Die Szenen sind sehr detailliert, die Dialoge knackig und flott. Trotz vieler verschiedener Handlungsstränge, Orte und Personen mit unterschiedlichen Schicksalen und Verbindungen – man sollte zu Beginn vielleicht die eine oder andere Notiz machen, um den Überblick zu bewahren – führt sie am Ende alle Fäden wieder zusammen – nicht ohne selbst erfahrene Krimi-Leser mehrfach auf die falsche Fährte zu locken. Am Ende überschlagen sich die Ereignisse, wobei das ganze Ausmaß der Motive und Taten für mich etwas zu kurz kam, das eine oder andere Thema ausführlicher hätte dargestellt werden können; wohl letztlich mit der Konsequenz, an dem Bündel an Themen den Rotstift anzusetzen.
Dabei liegt über diesem Roman eine gewisse Düsterkeit. Er blickt in die Abgründe der menschlichen Seele und auf die furchtbaren Folgen für die Opfer, stellt aber auch das Thema Tod und Vergänglichkeit in den Mittelpunkt. Die Gewalt liegt dabei im Verborgenen, Blut und Brutalität blendet Engberg fast völlig aus. Sie braucht keine großen Effekte, um die Spannung zu halten. Ihr geht es vielmehr um das facettenreiche Innenleben ihrer Figuren und ihre Beziehungen, Erlebnisse, die sie prägen.
Fünfter Band bereits in Dänemark erschienen
Engbergs Reihe – die Schriftstellerin war früher zudem als Tänzern, Choreografin und Schauspielerin tätig – hat bereits eine Tour um den Globus angetreten, ist laut ihres Instagram-Profils in 28 Ländern erschienen. Seit Herbst vergangenen Jahres liegt in dänischen Buchhandlungen der nunmehr fünfte Band mit dem Original-Titel „Isola“ aus, der auf die wunderschöne Ostsee-Insel Bornholm führt. Ein Roman, auf dem man sich trotz der kleinen kritischen Punkte in Teil vier wohl durchaus wieder freuen kann.
Katrine Engberg: „Das Nest“, erschienen im Diogenes Verlag, in der Übersetzung aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg; 416 Seiten, 20 Euro
Bild von un-perfekt auf Pixabay
Ich hab vor Jahren den ersten Teil der Reihe gelesen und für sehr gut befunden. Die nächsten beiden zogen aber irgendwie an mir vorbei, auch weil ich in letzter Zeit wenig Krimis gelesen habe. Ergibt es vor dem Hintergrund der Entwicklung der Hauptfiguren Sinn, mit dem vierten Teil wieder einzusteigen, oder wäre es sinnvoller, die anderen beiden erst nachzuholen?
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Die Bände sind auch unabhängig voneinander zu lesen, da die Fälle ja auch abgeschlossen sind. Ich habe beispielsweise nicht den dritten gelesen und die ersten beiden Bücher schon vor längerer Zeit. Das einzige was voranschreitet und sich entwickelt, sind die beiden Ermittler in ihrer jeweiligen Geschichte. Viele Grüße
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Danke für die Info. Ich verfolge ja gerne die Entwicklung der Hauptfiguren, wenn ich denn nun schon mal eine Reihe lese. Hm, vielleicht sehe ich mir doch erst Band zwei und drei an. Denn auch wenn ich es noch Ewigkeiten leugnen werde, soll ja diese Woche Herbstanfang sein und Herbstzeit ist bei mir Krimizeit. :-)
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