„Um zu überleben, muss man miteinander reden.“
Wir leben derzeit in einer Zeit der Distanz. Noch vor wenigen Wochen und Monaten war Lockdown das alles beherrschende Wort, das noch immer über uns allen schwebt. Eine Szenerie des Eingeschlossenseins beschreibt auch der Franko-Kanadier Christian Guay-Poliquin in seinem mehrfach preisgekrönten Roman „Das Gewicht von Schnee“. Doch bereits der Titel des eindrücklichen Buches weist darauf hin, dass es darin nicht um einen Virus, sondern um eine besondere Wetter-Erscheinung geht. Ein Dorf, umgeben von Wald, versinkt im Schnee und wird von der Außenwelt abgeschnitten, in der vieles anders ist als zuvor.
Zwei ungleiche Männer
Etwas Schreckliches muss geschehen sein: Tankstellen werden geplündert, bewaffnete Truppen streifen durch das Land, Menschen legen größere Vorräte an. Der Strom ist überall ausgefallen. Statt in eine nahe gelegene Klinik gebracht zu werden, wird ein Automechaniker von der Tierärztin behandelt. Der junge Mann, zugleich Ich-Erzähler im Roman, hatte sich während eines Auto-Unfalls nahezu lebensgefährliche Verletzungen zugezogen. In der Veranda eines großen Hauses wird er von Matthias gepflegt. Der ältere Mann, den es durch Zufall in das Dorf verschlagen hat, macht dies allerdings nicht aus freien Stücken. Ihm wurde ein Platz in einem Konvoi versprochen, der nach dem Winter in die Stadt fahren soll, in der seine Frau in einem Heim wohnt. Während der Verletzte und ans Bett Gefesselte von Schmerzen, Fieber und Albträumen geplagt wird, eher ein stiller und passiver Beobachter der Geschehnisse ist, zeigt sich Matthias trotz seines Alters als agiler und vor allem mitteilsamer Mann, der Pfleger, Koch, Physiotherapeut, Mitbewohner und zugleich Gegner im Schach ist.
Mit der Zeit schrumpfen die Vorräte, verkleinert sich die bereits reduzierte Welt auf das Notwendigste. Menschen verlassen heimlich den Ort. Der Kreis der Einwohner, die das ungleiche und durch den Lauf des Schicksals zusammengeführte Duo unterstützen, verringert sich zusehends. Vertrauenspersonen wie Maria und Joseph – viele Figuren des Romans tragen biblische Namen – haben das Weite gesucht. Die Situation verschärft sich. Zwischen Matthias und dem jungen Mann, der zunehmend zu Kräften kommt, brodelt es. Denn beide haben unterschiedliche Ansichten sowie Pläne und erleben Angst sowie schmerzliche Enttäuschungen.
Malerische wie tückische Kulisse
Guay-Poliquins Roman erzeugt eine ganz eigene Spannung, die mich dann und wann an das ebenfalls großartige Buch „Winter in Maine“ von Gerard Donovan erinnert hat, das ebenfalls in einer malerischen, aber auch die Protagonisten herausfordernden Kulisse angesiedelt ist. Dabei lenkt der Franko-Kanadier in seinem kammerspielartigen und von poetischen Landschaftsbeschreibungen gezeichneten Roman den Fokus nicht so sehr auf die Ursachen für den Zusammenbruch des Systems. Vielmehr richtet er das Augenmerk auf die Beziehungen zwischen den Menschen, ihre Gedanken und Gefühle, ihre tragischen Erlebnisse und Rückschläge, aber auch auf stille Momente des Glücks – inmitten einer übermächtigen Natur und einer Gesellschaft, die langsam zerfällt und in der es sowohl Menschlichkeit als auch Kälte und Selbstsucht gibt. Umrahmt wird die Haupthandlung mit Verweisen auf die Ikarus-Sage aus der griechischen Mythologie. Über den einzelnen Kapitel stehen als Wort geschriebene Zahlen, die eine besondere Bewandtnis haben, die der Leser mit fortschreitender Lektüre jedoch auch erahnen wird.
„Die Geschichten wiederholen sich, sagt er schließlich. Wir wollten unserem Schicksal entkommen und werden vom Lauf der Dinge verschlungen. Von einem Wal verschluckt. Tief unten im Wasser hoffen wir, dass der Wal auftaucht und uns ans Ufer spuckt. Wir sitzen im Bauch des Winters fest, in seinen Eingeweiden.“
Der Autor zählt zu den jüngeren literarischen Stimmen seines Landes, das als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse vom 20. bis 24. Oktober seine Literatur und Kultur unter dem Motto „Singular Plurality – Singulier Pluriel“ präsentieren wird; nach der rein digitalen Ausgabe im vergangenen Jahr nun erneut, allerdings in einer Mischung aus Präsenz und digitalen Angeboten. Mit über 300 geplanten Neuerscheinungen in 248 Verlagen zeigt sich die kanadische Literaturszene in ihrer ganzen Vielfalt, die nach und nach auch hierzulande entdeckt werden kann und sollte.
Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Missmesmerized“.
Christian Guay-Poliquin: „Das Gewicht von Schnee“, erschienen im Verlag Hoffmann und Campe, in der Übersetzung aus dem kanadischen Französisch von Sonja Finck und Andreas Jandl; 288 Seiten, 24 Euro
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