„Starke Menschen lassen sich nicht beugen. Sie werden gebrochen oder zerbrechen.“
Tekla liebt Otto. In normalen Zeiten wäre ihre Beziehung akzeptiert worden. Doch ein Krieg ist ein verheerender Ausnahmezustand, den Tekla, die Norwegerin, und Otto, der deutsche Soldat, erfahren. Ihre Liebe ist ein Stigma – für die Familie der jungen Frau und für ihr Land. Ein Schicksal, das sie mit vielen teilt. Wie viele „Tyskerjenten“, „Deutschenmädchen“, es während des Zweiten Weltkriegs in dem nordischen Land gegeben hat, weiß keiner ganz genau. Die Zahlen schwanken zwischen 30.000 bis 100.000. Die norwegische Autorin und Journalistin Trude Teige verarbeitet in ihrem Roman „Als Großmutter im Regen tanzte“ dieses bereits bekannte Thema und verbindet es jedoch mit einer bis heute wenig bekannten Tragödie.
ein Staat entschuldigt sich
Bereits Teiges Landsmann Edvard Hoem hat in seinem 2005 im Original erschienenen autobiografisch geprägten Roman „Die Geschichte von Mutter und Vater“ („Mors og fars historie“) über die verschmähten Beziehungen zwischen norwegischen Frauen und deutschen Wehrmachtssoldaten geschrieben. Dieses Kapitel wird seit Jahrzehnten historisch wie gesellschaftlich aufgearbeitet, nachdem sich zunehmend Betroffene zu Wort gemeldet und von ihrem Schicksal berichtet haben. 2018, mehr als 70 Jahre nach Kriegsende, entschuldigte sich der norwegische Staat offiziell für die Zuwiderhandlungen der Behörden, wobei die Demütigungen und Misshandlungen aus der Gesellschaft heraus wohl das größte Leid der Frauen verursacht haben.
Tekla wird von ihrer Familie verstoßen. Mit Otto mittlerweile verheiratet, landet sie mit weiteren norwegisch-deutschen Paaren in einem Internierungslager. Von dort geht es mit einem Frachtschiff in Ottos Heimat, in ein zerstörtes Deutschland und in den von der russischen Armee besetzten östlichen Teil – nach Demmin, wo Ottos Familie ein Landgut besitzt. Hier, in der vorpommerischen Stadt, geschah eine der großen Tragödien der Nachkriegszeit, über die lange geschwiegen wurde: Mehrere Hunderte Zivilisten nahmen sich im Mai 1945 das Leben, darunter zahlreiche Frauen teils mit Kindern, nachdem sie von russischen Soldaten vergewaltigt wurden.
Enkelin auf Spurensuche
Teklas Enkelin Juni wird viel später Demmin besuchen, die Gedenktafel für die Opfer dieses wohl größten Massenselbstmords in der deutschen Geschichte sehen. Weder hat sie von der Vergangenheit ihrer Großmutter und die ihrer Mutter Lilla, die im Dezember 1945 zur Welt gekommen war, gewusst, noch irgendetwas ahnen können. Erst als sie nach dem Tod ihrer Mutter das Haus auf der Insel erbt und einzieht, fällt ihre ein Foto in die Hände, auf dem ihre Großmutter Tekla und ein deutscher Soldat zu sehen ist, sowie Briefe an Teklas späteren Ehemann Konrad, Junis Großvater. Die Enkelin, selbst in einer Krise und zudem schwanger von ihrem gewalttätigen Ex, begibt sich auf Spurensuche.
„Tekla sah nach draußen in den Regen. Es fühlte sich an, als befände sie sich zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters, zwischen den Abschied von Norwegen, der mit so viel Erwartung verknüpft war und der Endstation ihrer Reise: ein Dasein, in dem die Angst vor dem nächsten Tag alles überschattete.“
In ihrem Nachwort bezeichnet Trude Teige die Geschichte jener norwegischen Frauen, die ihre Heimat verlassen haben, als für die meisten unbekannt. Doch es ist auch die Geschichte meiner Großmutter Signe. Wer meinen Blog verfolgt, wird womöglich davon bereits gelesen haben, als ich über die Frankfurter Buchmesse 2019 und den Auftritt des Gastlandes Norwegens geschrieben hatte. Meine Großmutter habe ich nie gesehen. Sie starb wenige Jahre vor meiner Geburt. Geblieben sind Fotos und Erinnerungen. Meine dahingehend, dass ich als Kind mit meinen Eltern den Friedhof in einem sächsischen Dorf nahe der Elbe besucht habe, wo Signe mit ihrem Mann ihre letzte Ruhestätte fand – mit einem Grabstein, der eine Inschrift in norwegischer Sprache besaß: Vi aldri glømme deg! Wir werden Dich niemals vergessen. Geboren auf der nordnorwegischen Insel Senja, starb sie, Mutter von vier Kindern, in der DDR. An der Seite eines deutschen Soldaten, meinem Großvater, verließ sie ihre Heimat, die sie in den folgenden Jahren nie mehr wieder sehen sollte. Wie Tekla musste sie ihren Pass abgeben. Die notwendige Ausreisegenehmigung durch die zuständigen Behörden in der DDR hat sie nie bekommen. Ihr größter Wunsch blieb unerfüllt, durch das Unrecht des Staates.
Deutschland eine Trümmerwüste
Es ist deshalb ein schwer zu beschreibendes Gefühl, das ich bei der Lektüre empfand. Ich habe mich oft gefragt, welche Parallelen im Leben beider Frauen – der realen und der fiktiven – bestehen könnten. Und wie viele norwegischen Frauen es noch immer gibt, die, mittlerweile wohl sehr betagt, noch immer in Deutschland, vielleicht sogar im Osten leben. Tekla gelingt es, in ihr Heimatland zurückzukehren. Unter enormen Strapazen, die sie auf einem Bauernhof auf dem Land und später noch in die Hauptstadt Berlin führen, die eine einzige Trümmerwüste ist, in der Überlebende in Kellern hausen, sich mit Diebstählen über Wasser halten. Wie Niels, ein bekannter Dirigent mit unerschöpflichem Optimismus und der Hingabe zum Regen, die sich wie ein roter Faden durch diesen Roman zieht. Wie Tekla schließlich Konrad fand, wird eher beiläufig erzählt, was zu bedauern ist. Wie auch, dass inhaltlich das Norwegen in der Nachkriegszeit nahezu ausgeblendet wird und sprachlich manche Szenen und Passagen zu pathetisch wirken. Wie die neue Beziehung von Juni mit Georg, einem Historiker, der sie auf ihrer Reise nach Deutschland begleitet.
„Kleider von Verstorbenen sind eine Mahnung an die Vergänglichkeit. An all das, was nie wieder geschehen wird, für das es endgültig zu spät ist.“
Wiederum großartig gelingt es Teige, die Nachkriegsschauplätze und sehr ergreifend anhand ihrer Figuren das unermessliche Leid der Menschen zu beschreiben. Allen voran Tekla, die Zeugin, aber auch Opfer von brutaler Gewalt wird. Eine Gewalt, die letztlich auch ihre Tochter und Enkelin erfahren müssen, und über die geschwiegen wird, was zu Spannungen zwischen den Frauen, allen voran Juni und ihre Mutter, führt. Erst später wird Teklas Enkelin das ganze Ausmaß dieser Familientragödie erfahren, die mehrere Generationen beeinflusst. Diesen zeitlichen Handlungsrahmen von mehreren Jahrzehnten vermittelt die Autorin durch zwei Handlungsstränge: Der erste ist in der jüngsten Vergangenheit mit Juni als Ich-Erzählerin angelegt, der zweite schildert die Erlebnisse von Tekla.
Ein Bestseller in Norwegen
Der S. Fischer Verlag bewirbt den Roman als „Die Entdeckung aus Norwegen“, dabei soll an dieser Stelle auch erwähnt werden, dass Teiges Werk im Original bereits 2015 mit dem Titel „Mormor danset i regnet“ erschienen ist, wie so viele Bücher, die mit Verspätung von Norwegen aus Deutschland erreichen. Trude Teige wurde 1960 in Fosnavåg (Møre og Romsdal) geboren, einer Kleinstadt an der norwegischen Westküste, in der ich kurioserweise in einem Kurs die norwegische Sprache erlernte und die sich unweit der Vogelinsel Runde befindet, auf der ich zehn Monate vor meinem Studium als Au Pair gelebt habe. Teige ist in Norwegen als Journalistin und TV-Moderatorin bekannt. In deutscher Übersetzung erschienen ist bereits eine Reihe an Kriminalromanen (Aufbau Verlag). Ihr Roman „Mormor danset i regnet“, für den sie selbst in Berlin und Demmin recherchierte sowie die Hilfe des Historikers Ragnar Ullstein und einer Zeitzeugin erhielt, stand mehrere Jahre auf den norwegischen Bestsellerlisten, rund 60.000 Exemplare wurden bisher verkauft. 2021 erschien mit „Morfar pustet med havet“ ein Nachfolgeroman.
Mit „Als Großmutter im Regen tanzte“ hat Teige ein vielschichtiges wie ungemein berührendes Buch geschrieben, das nicht nur das ganze Ausmaß von Kriegsleid in all seinen Formen vor Augen führt. Es erzählt auch vom Schweigen der Älteren und von jenen Wunden, die in nächste Generationen getragen, nahezu vererbt werden. Vor allem die der Frauen. Denn Teklas Geschichte hat es ähnlich auch in anderen Ländern gegeben. Und: Während Frauen auf die unterschiedlichste Art und Weise schikaniert worden sind, waren jene norwegischen Männer, die einst deutsche Frauen geheiratet haben, keinen juristischen Sanktionen ausgesetzt.
Trude Teige: „Als Großmutter im Regen tanzte“, erschienen im S. Fischer Verlag, aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob; 384 Seiten, 22 Euro
Foto von Inge Maria auf Unsplash
Danke für diese Buchbesprechung mit deinen persönlichen Anmerkungen – ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach ist, über so ein Buch zu schreiben, das einen familiär betrifft. Ich hoffe, deine Oma Signe fand, auch wenn du sie nicht kennengelernt hast, noch ein wenig Glück in ihrem Leben – und sie wäre sicher stolz, dass ihre Enkelin nun schon halbe Ehren-Norwegerin ist! Abseits davon – das Buch klingt hochinteressant!
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moin ☀️ ich hatte mir das Buch schon vor einiger Zeit gekauft – kann es nur in kleinen „Häppchen“ lesen – es geht sehr nahe.
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