„Wo hört die Suche auf, wo beginnt die Heimkehr?“
Sie warten und warten. Fast glauben sie, das Ufer am See ist das Ende ihres Wegs, ihrer Flucht. Sie wollen auf den See, auf die Insel. Hans und seine Eltern, die der Stadt und dem Haus den Rücken gekehrt haben, wenige Tage vor dem Weihnachtsfest. Dann kommt er doch: der Fährmann mit dem Kahn, der die Familie Roleder mit ihrem Hab und Gut auf die Insel hinübersetzt. Für Hans wird das Eiland nur für kurze Zeit eine Idylle sein. In seinem Debütroman „Der Inselmann“ erzählt Dirk Gieselmann dessen traurige Geschichte.
Idylle von kurzer Dauer
Dass diese Geschichte unter keinem guten Stern steht, wird schnell klar. Nicht nur kommt der Fährmann zu spät des Eises wegen, das seinen Kahn umschlossen hatte. Der Schäfer, der auf der Insel die Schafe versorgt, ist weg, ein Teil der Tiere verhungert. Die Ursache wird später erzählt. Eine Familientragödie, die fast wie ein Virus auch die Roleders befallen wird. Nur kurze Zeit nach deren Ankunft meldet sich die Schulbehörde: Der Junge muss in die Schule. Die nahezu sorglosen Tage mit Bull, dem zurückgelassenen Hund des Schäfers, an der Seite sind vorbei. Fortan rudert Hans, das stille und schwermütige Kind, das mehr Zuneigung und Aufmerksamkeit der Eltern verdient hätte, das sein Schaukelpferd und Indianer liebt, täglich mit dem Boot über den See. Bis zu einem denkwürdigen Tag. Hans schwänzt die Schule, weil er die Anfeindungen eines Mitschülers nicht mehr ertragen kann. Mit fatalen Konsequenzen: Hans kommt in eine Erziehungsanstalt – Burg genannt, fern der Insel, unweit eines Moores.
Gieselmanns Debüt erinnert auf den ersten Blick an ein Märchen. Weder verortet er die Handlung an einen konkreten Ort und in einer bestimmten Zeit, noch benennt er das Gros der handelnden Figuren. Es sind Andeutungen, die zu Vermutungen führen. Es ist von Menschen, die auf der Flucht aus einem Land sind, die Rede. Unweigerlich denkt man an die DDR und an die damaligen Jugendwerkhöfe, in denen „schwer erziehbare“ Jugendliche zu einer „sozialistischen Persönlichkeit“ erzogen werden sollten. „Rote Burg“ wurden die gefürchteten Einrichtungen genannt, deren Geschichte und die Schicksale ihrer Bewohner bis heute aufgearbeitet werden. Hans wird dort mehrere Jahre verbringen. Aus dem kindlichen Inselkönig wird ein zu früh erwachsener Gefangener in einer trostlosen Welt – und ein Zwangsarbeiter, der im Moor schuften muss. Trotz alledem: Die Insel vergisst er nie, er baut sie sogar als Modell nach.
Suche nach Sehnsuchtsort
„Der Inselmann“ ist ein Buch, in dem die Zeit verrinnt – wie Sand, der durch die Hand eines Menschen rieselt, wie die Kreise nach und nach verschwinden, die ein Stein hinterlässt, der ins Wasser geworfen wird. Ein Bild, das der Autor immer wieder bemüht. Das Geschehen zieht sich trotz des schmalen Umfangs des Buches über mehrere Jahrzehnte. Aus dem Jugendlichen wird ein Mann, der durchs Land zieht. Auf der Insel ungewollt, wird er zum unfreiwilligen Vagabunden. Nie findet er ein Ort, um letztlich lange zu bleiben. Denn Hans weiß, was sein Ziel ist. Sein innerer Kompass ist stark. Und er wird ihn wieder auf die Insel führen.
„Nur die Insel bleibt, was sie immer schon gewesen ist: der Gipfel eines Bergs, der aus dem Wasser ragt, geformt von einem Gletscher im Winter der Welt.“
Gieselmann, mehrfach preisgekrönter Journalist und Autor für mehrere Zeitungen und Magazine, lässt Raum für weiße Flecken, vieles bleibt ungeklärt, sind manche Personen auch nur angerissen, gibt es Geheimnisse, die geheim bleiben. Hans ist der Held, an dem das Leben eines Menschen erzählt wird, der die Einsamkeit sucht und der der Gesellschaft entfliehen möchte. Die Insel – ein von Wasser vollständig umgebenes Land – ist der Sehnsuchtsort, den nur jene erreichen, die gewisse Strapazen auf sich nehmen. Hans ist nicht der Hans im Glück im bekannten Märchen. Liebe erfährt er nur wenig, seine schönsten Erinnerungen sind die an Kalle und Bull, seine einzigen Freunde.
„Der Inselmann“ ist voller Melancholie und Traurigkeit, die unweigerlich auf den Leser übergeht, mit einer Sprache, die klar, aber kraftvoll und voller eindrücklicher Bilder und nachhallender Wendungen ist. Ein Roman, der nicht nur von Einsamkeit, sondern auch vom unwiederbringlichen Vergehen der Zeit und von der Fragilität des Lebens, vom Vergessen und von Trauer erzählt. Hans möchte man immer wieder Glück wünschen – das allerdings immer wieder ausbleibt. Aus dem Märchen wird eine Tragödie eines Einzelgängers, der nicht an sich, sondern wegen der Welt scheitert.
Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Leseschatz“.
Dirk Gieselmann: „Der Inselmann“, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch, 176 Seiten, 20 Euro
ich habe das schon gelesen, weil mir ein Kunde so davon vorgeschwärmt hat. Aber – ehrlich gesagt – ich fand es sehr bemüht. Mir hat es nicht wirklich gefallen.
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