„Es gab sie noch immer, diese Welt in ihrer erfreulichen Mittelmäßigkeit.“
Ihr Leben ist auf den ersten Blick so unaufgeregt alltäglich. Mary Perrault kümmert sich um Haus und Grundstück, um ihren Mann und die vier Kinder. Mit ihrer Familie lebt sie in der kalifornischen Provinz, im Santa Clara Valley, malerisch zwischen Bergen, Meer und Marschland und unweit von Sacramento gelegen. Ihr Haus ist ein Hort der Gastfreundschaft und Sicherheit. Doch auch die tragischen Schicksale und die großen Ereignisse der Welt machen nicht Halt vor ihrer Tür. Mit ihrem Roman „Draußen die Welt“ erzählt die amerikanische Schriftstellerin und Lyrikerin Janet Lewis (1899 – 1998) vom Alltag einer amerikanischen Familie sowie den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er-Jahre und Anfang der 30er-Jahre.
Große Depression
Marys Alltag wird zuerst erschüttert, als ihre beste Freundin Agnes nebst deren Enkeln bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben kommen. Beide Frauen stammen aus Schottland, wo sie aufgewachsen sind, beide sind nach Amerika gegangen. Durch Zufall haben sich ihre Wege wieder in Kalifornien gekreuzt. Agnes‘ Ehemann Lem und seine beiden Neffen Walter und Eustace werden Teil der Familie. Kurz nach dem überraschenden Tod ihrer Freundin wird das Land von der Depression erfasst, nachdem die Börse in New York zusammenbricht. Die große Wirtschaftskrise erreicht Schritt für Schritt schließlich auch die Provinz. Das Geld wird knapp, die Arbeitslosigkeit greift um sich, und die Löhne fallen. Viele Familien kommen nur als Selbstversorger über die Runden. So auch die Perraults. Marys Mann Aristide, ein gebürtiger Schweizer, ist Gärtner und züchtet Kaninchen. Zudem muss Mary darüber hinaus als Putzfrau arbeiten, damit die Familie genug Geld hat. Auch ihre älteren Kinder, allen voran Tochter Melanie, versuchen, durch die Krise zu kommen.
„Draußen die Welt“ zeigt sich als ein merkwürdiges Buch. Trotz des oftmals immergleichen Alltags, der darüber hinaus sehr detailreich geschildert wird, und des Blick auf eine ganz normale Familie entwickelt dieser Roman einen erstaunlichen Sog. In all diesen Nöten und Problemen – so wird einer Familie Gas und Strom abgestellt, ereignet sich ein mysteriöser Tod einer Nachbarin – beeindruckt vor allem die Heldin mit ihrer Unerschütterlichkeit. Sie ist ein Fels in der Brandung, bewirtet mit Leib und Seele ihre Gäste und unterstützt Nachbarn, wo sie kann. Auch wenn sie selbst nicht viel hat. Und Lewis erzählt dies in einem ruhigen und unaufgeregten Ton. Dramatische Veränderungen und tragische Schicksale werden meist nur kurz und beiläufig erwähnt. Viel Raum nehmen dafür ungemein bildhafte Naturschilderungen, die Ruhe, Beständigkeit sowie die Wiederkehr der Jahreszeiten vermitteln, sowie die Beziehungsprobleme der beiden jungen Männer Walter und Eustace ein. Eustace sucht die Nähe zu Melanie, sie verloben sich, während Walter deren beste Freundin und Mitbewohnerin Rose heiratet, eine Ehe, die indes nur von kurzer Dauer sein wird.
„An jenem heißen, stillen, nicht enden wollenden Samstag war ihr bewusst geworden, wie dünn der Faden war, an dem ein Leben hing, und auch jetzt, wenn sie gewohnten alltäglichen Arbeiten und Verpflichtungen nachging, die ihre Aufmerksamkeit ganz und gar in Anspruch nahmen, und obgleich ihr eigenes Leben einen beständigen Eindruck machte, wollte sich dieser Gedanke nicht verflüchtigen.“
Lewis‘ Roman erschien erstmals 1943 mit dem Originaltitel „Against a Darkening Sky“. Es ist das vierte Werk der US-Amerikanerin, den die dtv-Verlagsgesellschaft erstmals in einer deutschen Ausgabe veröffentlichte. Die Wiederentdeckung der Autorin und Lyrikerin setzte mit dem Band „Die Frau, die liebte“ ein, der hierzulande 2018 erschienen war. Im Anschluss kamen zwei Jahre später „Der Mann, der seinem Gewissen folgte“ sowie „Verhängnis“ heraus, zwei meisterhafte historische Romane, die auf historischen Kriminalfällen und Indizienprozessen beruhen. Und auch dieses Buch kommt nicht ohne eine Kriminalgeschichte aus: Denn eines Tages verschwindet Terry, Melanies vermögender Verehrer, spurlos. Im weiteren Verlauf des Falls kommt es zu Unruhen, die Mary über die Fragilität von Recht und Ordnung sinnieren und in ihr eine Sehnsucht nach ihrer schottischen Heimat entstehen lassen.
Eine Mitschülerin Hemingways
Wiederentdeckungen wie diese wecken unweigerlich auch das Interesse für den Verfasser oder die Verfasserin. Lewis, 1899 in Chicago als Tochter eines Englischlehrers geboren, wuchs im Chicagoer Vorort Oak Park auf. Einer ihrer Mitschüler war kein Geringerer als Ernest Hemingway, beide schrieben für die Literaturzeitschrift ihrer Schule. Sie studierte später französische Literatur an der University of Chicago, wo sie einem Literatenkreis angehörte. Nach ihrem Studium zog es sie für einige Monate nach Paris. Mit ihrem Mann, dem Lyriker Yvor Winters, den sie 1926 heiratete, zog die Autorin nach Los Altos/Kalifornien. Ihr Debüt feierte Lewis 1922 mit dem Gedichtband „The Indians in the woods“, wobei sie in jenem Jahr schwer an Tuberkulose erkrankte. Ihr erster Roman „The Invasion“ über eine schottisch-irisch-indianische Familie erschien zehn Jahre später. Für die Recherche zu ihrem Roman „Verhängnis“ zog es sie dank eines Stipendiums, das sie 1950 erhielt, erneut nach Frankreich. Im Alter von 99 Jahren starb Lewis, die an der Stanford University sowie an der University of California at Berkeley unterrichtete und politisch aktiv war, wobei sie sich unter anderem dem Rassismus gegen Farbige und Indianer entgegenstellte.
Von der Liste ihrer Werke, zu denen auch Libretti gehören, warten einige noch auf ihre Übersetzung. Zweifellos reiht sich Lewis‘ Wiederentdeckung in die ihrer großen Landsleute wie James Baldwin oder John Williams ein. Und zweifellos kann sie mit ihrem eindrücklichen wie menschlichen Roman „Draußen die Welt“ zu den gesellschaftlichen Chronisten gezählt werden, die mit einem bestechenden Blick das Leben und den Alltag der Menschen, ihre guten wie schlechten Zeiten, festgehalten haben – in einer klaren Sprache, die sowohl Mitgefühl als auch Souveränität und Weisheit beweist.
Janet Lewis: „Draußen die Welt“, erschienen in der dtv Verlagsgesellschaft, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Sylvia Spatz; 368 Seiten, 24 Euro
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