Anatoli Pristawkin – „Schlief ein goldnes Wölkchen“

„Die Kinder, das war was anderes, sie waren wie Kollerdisteln, die der Wind trieb, wohin er wollte.“ 

Sie heißen Kolka und Saschka. Die meisten kennen sie als Kusmin-Zwillinge. Keiner kann sie ob ihrer verblüffenden Ähnlichkeit auseinanderhalten. Sie sind unzertrennlich und klammern sich an sich in einer Zeit des Krieges, des Leids, des stetigen Hungers. Sie leben in einem Waisenhaus, wissen nicht, was Familie und elterliche Liebe bedeuten. Mit 500 weiteren Kindern werden sie eines Tages in den fernen Osten, in den Kaukasus, geschickt. Doch hier geraten sie zwischen die Fronten. Mit seinem Roman „Schlief ein goldnes Wölkchen“ hat der russische Schriftsteller Anatoli Pristawkin (1931 – 2008) ein erschütterndes literarisches autobiografisches Zeitdokument verfasst, das nun in einer neuen Ausgabe wiederentdeckt werden kann – und sollte.

Zeit des Krieges, der unmenschlichen Deportationen 

Der Roman führt in die Sowjetunion. Das Reich ist riesig, Stalin herrscht seit knapp 20 Jahren mit eiserner brutaler Hand. Menschen werden getötet oder in sibirische Straflager verschleppt, wo ihr Schicksal ungewiss bleibt. Ganze Völker werden umgesiedelt. Die deutsche Wehrmacht ist nach der Schlacht bei Stalingrad auf dem Rückzug. Doch im Hinterland werden andere Kämpfe geführt. Wegen der vermeintlichen Kollaboration der Tschetschenen mit den Deutschen wird das Volk 1944 deportiert. Menschen aus dem Westen der Sowjetunion sollen die verlassenen Dörfer besiedeln, so auch jene Hunderte Kinder aus den Moskauer Waisenhäusern, die sich in Begleitung von Erziehern in einer Kolonie ansiedeln. Neben den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen russischen Soldaten und tschetschenischen Rebellen wird in einer Szene das ganze Ausmaß dieses politischen Irrsinns deutlich. Während ihrer tagelangen Zugfahrt sieht Kolka während eines Haltes in einem anderen Waggon Kinder, die jämmerlich schreien. Ein Wort, das der Junge nicht kennt, erst später erklärt bekommt. Von Alchusur, einem tschetschenischen Kind, das zu Kolkas Blutsbruder wird, nachdem Saschka auf eine „weite Reise“ gegangen ist. 

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„Schlief ein goldnes Wölkchen“ ist ein Buch, dessen Lektüre ungemein schmerzt und schockiert. Sehr detailliert und wahrhaftig schreibt Pristawkin vom quälenden Hunger der Kinder, die in ihrer Verzweiflung mit einfachsten Mitteln einen Tunnel zur Brotkammer graben, während sich der Leiter des Waisenhauses gewissenlos an den Vorräten für sich und seine Familie bedient. Die scheinbar endlose Zugfahrt in den Kaukaus dauert mehrere Tage, die Zwillinge klauen sich Lebensmittel zusammen oder „überfallen“ Felder. Unterwegs wird Saschka schwer krank.  Angekommen in der ländlichen Region mit Blick auf die schneebedeckten, wolkengleichen Gipfel des Kaukasus, erleben sie hautnah die Gewalt der kriegerischen Auseinandersetzungen, ihre Kinder-Kolonie wird mehrfach angegriffen. Zudem schauen die Dorfbewohner mit Argwohn auf die Kinder und Jugendlichen. Die Erzieherin Regina Petrowna, die von den beiden Jungen angehimmelt wird, nimmt die Zwillinge mit zu einer Außenstelle einer Kolchose. Der Frieden ist dort indes nur von kurzer Dauer. Neben dem Kampf der Kinder ums Überleben wird auch das Schicksal der Erwachsenen geschildert. Egal ob jung oder alt – jeder wird in dieser Zeit aufgerieben, körperlich wie seelisch verwundet.  

„Ganz Russland war in Bewegung, ganz Russland war unterwegs, und wir waren mitten in seinem Strom, Fleisch von seinem Fleisch, wir waren seine Kinder.“ 

Vieles was Pristawkin in seinem Roman erzählt, beruht auf eigenen Erlebnissen und Erfahrungen. Mehrmals schaltet sich der Erzähler ein, wechselt sowohl die Perspektive als auch die Zeitform der Handlung. Es wird klar, dass das Geschehen rückblickend geschildert wird, wie die schrecklichen Ereignisse den Erzähler geprägt haben. Pristawkin ist sieben Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg ausbricht, neun, als die Wehrmacht die Sowjetunion überfällt. 1940 stirbt seine Mutter, sein Vater geht als Offizier an die Front. Er schlägt sich als Halbwaise herum, kennt Hunger, das stetige Herumziehen, ein Leben, das nur dem Überleben dient. Er lebt in Waisenhäusern und Verwahranstalten. Mit 14 beginnt er zu arbeiten, lernt als junger Mann verschiedene Berufe. 1959 schließt er sein Studium am Gorki-Literaturinstitut in Moskau ab, veröffentlicht erste Erzählungen. Sein Debüt feiert er mit „Aufzeichnungen meines Zeitgenossen“.

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Anatoli Pristawkin (Foto: http://www.kremlin.ru)

1981 verfasst Pristawkin seinen Roman „Schlief ein goldenes Wölkchen“. Der Titel verweist dabei auf eine Zeile aus dem Gedicht „Der Felsen“ des Dichters Michail Jurjewitsch Lermontow (1814 – 1841), der neben Puschkin zu den bekanntesten Vertretern der russischen Romantik zählt. Das Buch erscheint allerdings erst einige Jahre später, zuerst in der Zeitschrift „Snamja“, wobei die Zensur Kürzungen vornahm. Erst im Zuge des politischen Wandels wird der Roman 1987 vollständig veröffentlicht, für den der Verfasser 1988 einen Staatspreis erhält. Sein Buch wird zur Pflichtlektüre an russischen Schulen. Neben seinem literarischen Wirken ist der russische Schriftsteller darüber hinaus politisch engagiert. Von 1992 bis 2001 ist er Vorsitzender der während der Amtszeit von Boris Jelzin ins Leben gerufenen Begnadigungskommission, wofür er 2002 den deutsch-russischen Aleksandr-Men-Preis erhielt. Er sucht den Kriegsschauplatz in Tschetschenien auf und berichtet über die russischen Verbrechen. Mit seinen Vorträgen setzt er sich gegen die Todesstrafe, gegen Gewalt, Korruption, Machtmissbrauch und Unterdrückung ein. 

Leise Hoffnung auf ein Miteinander

Mit einer Neuausgabe kann Pristawkins bekanntester Roman nun wieder gelesen werden. Ein Buch, das an ein früheres und hierzulande wohl unbekanntes Kapitel russisch-tschetschenischer Geschichte erinnert.  Der Schriftsteller überlässt es den Leser, über die damaligen Geschehnisse zu urteilen, wenngleich er deutlich auf die Ungerechtigkeit gegenüber den Tschetschenen eingeht, in der Freundschaft zwischen Kolka und Alchusur auch die leise Hoffnung auf ein Miteinander liegt. Es sind die Kinder, die Menschen nicht nach ihrer Herkunft kategorisieren. In seinem Nachwort schreibt der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani, der sich für eine Neuausgabe eingesetzt hat: „‚Schlief ein goldnes Wölkchen‘ ist nicht nur ein Buch über Qualen, die jedes Fassungsvermögen übersteigen. Es ist auch ein Buch über Lebenslust.“ Die Brüder Kolka und Saschka und ihr trauriges Schicksal bleiben unvergesslich. Es ist sehr zu wünschen, dass dieser meisterhafte Roman erneut viele Leser findet.    


Anatoli Pristawkin: „Schlief ein goldnes Wölkchen“, erschienen im Aufbau Verlag in der Übersetzung aus dem Russischen von Thomas Reschke, neu überarbeitet von Ganna-Maria Braungardt und Christina Links, mit einem Nachwort von Navid Kermani; 319 Seiten, 22 Euro

Foto von Andrey Larin auf Unsplash

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