Donal Ryan – „Seltsame Blüten“

„Die Welt fand immer ein Schlupfloch.“

Sie ist eines Morgens einfach weg. Still und heimlich gegangen, ohne eine Nachricht oder einen einzigen noch so leisen Hinweis zu hinterlassen. Nur der Busfahrer hat sie gesehen. Kit und Paddy Gladneys Leben ist nicht mehr, wie es war, als ihre 20-jährige Tochter Mary, genannt Moll, verschwindet. Nie erhalten sie jemals ein Lebenszeichen ihrer Tochter. Ist Moll vielleicht sogar Opfer eines Verbrechens geworden? Das ältere Ehepaar ringt mit seinem Schmerz und seiner Trauer, seiner Ratlosigkeit und Verzweiflung. Doch dann taucht ihre Tochter wieder auf, wie sie einst verschwunden war. Plötzlich und wie aus dem Nichts. Fünf Jahre nach ihrem Weggang. Und wieder ist nichts wie zuvor.

Ein Unbekannter Mann sucht nach Moll

Donal Ryan beginnt seinen jüngsten Roman mit einem Paukenschlag, einem unvorhergesehenen Ereignis. Im Laufe der Handlung, auf jenen rund 272 Seiten, wird es weitere Überraschungen geben – und auch manche Erschütterung. Moll ist nach ihrer Rückkehr nicht mehr das Mädchen, wie ihre Eltern es einst kannten. Nicht nur, weil ihre Tochter sie nicht mehr zur Messe in der Kirche begleiten will und es zu einem heftigen Streit mit Ellen Jackmans kommt, deren Familie das Haus der Gladneys besitzt und auf deren Hof Paddy arbeitet. Nach und nach erfahren sie ihre ganze Geschichte, was eben in all den für sie verlorenen Jahre geschehen ist. Ihre Tochter lebte in London, jobbte in einem Hotel. Und ist nicht mehr allein. Sie erfahren, dass ein schwarzer Mann aus England sie sucht. Paddy findet ihn daraufhin betrunken im Pub und holt ihn ins Cottage der Familie. Der Mann heißt Alexander und ist Molls Ehemann. Zusammen haben sie ein Kind, den kleinen Josh.

1709377912406

Ein schwarzer Engländer aus der Großstadt in einem irischen Dorf in den 1970er-Jahren. Eigentlich müssten alle „Alarmglocken“ wegen – wenngleich klischeehafter Bedenken – schrillen. Doch es kommt ganz anders. Alexander und Josh werden das ganze Glück von Paddy und Kit, im Ort wird die Familie, vor allem auch der Fremde aus London und seine Arbeit als Garten- und Landschaftsgestalter, geschätzt. Alexander erlebt in der irischen Provinz eine eigene Welt, die ihm ein Zuhause gibt. Doch jedes noch so große Glück kommt leider meist zu einem schnellen Ende. Mit einiger Zeit Abstand blickt Josh zurück auf die späteren Ereignisse, die ihn nach London vertrieben haben, wie einst seine Mutter. Dass seine Mutter indes ein Geheimnis mit sich trägt, das damals der Grund für ihr Verschwinden war, ahnt er nicht.

„(…) und er wusste, dass diese Welt nicht die einzige war, dass dies nicht das Zentrum oder der Mittelpunkt war, sondern nur ein winziger und gleichwertiger Teil eines unvorstellbaren Ganzen, und er spürte die Geschwindigkeit der Drehung, während er auf dem runden Bauch eines Riesen schlief.“

„Seltsame Blüten“ ist eine eindrückliche literarische Wundertüte. Gefüllt mit überraschenden Ereignissen, interessanten Blickwinkeln und liebevoll ausgestalteten Protagonisten. Die Geschehnisse in einem Zeitraum von einigen Jahren werden aus mehreren Perspektiven und in unterschiedlichen sprachlichen Stilen geschildert. Abschnitt eins, der das ältere, sehr fromme Ehepaar, sein einfaches wie bescheidenes Leben und seinen schrecklichen Verlust schildert, erinnert mit seiner etwas altertümlichen Sprache an Texte aus früheren Zeiten, in manchen Passagen sogar an die Form eines Märchens.  Der zweite und dritte Part, in der Alexander in Knockagowny auftaucht und auch sein eigenes familiäres Umfeld und seine Herkunft beleuchtet wird, ist moderner erzählt.

In den Romanteil mit dem Titel „Hohelied“, als Josh mittlerweile nahezu erwachsen ist, spinnt Ryan in die Haupthandlung eine Binnen-Geschichte ein. Sie erzählt von den Erlebnissen eines blinden Bettlers und lässt an die biblische Legende des Bartimäus‘ denken – verfasst von Alexanders und Molls Sohn. Josh, der im Schreiben seine Berufung findet, liest seiner Freundin Holly aus seinem Werk vor. Das Buch der Bücher, allgemein die Religion, zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman, schafft – trotz aller Unterschiede – eine enge Verbindung zwischen Molls Eltern und ihrem Mann, der von seinen Eltern Barnay und Delilah ebenfalls religiös erzogen worden ist. Alle Abschnitte des Romans tragen Titel, die auf die Bibel verweisen.

Schon sein Debüt preisgekrönt

Ryan beschritt einen eher ungewöhnlichen Lebensweg, bevor er Schriftsteller wurde. Der Ire, 1976 in Nenagh geboren, studierte Bauingenieurwesen und Jura an der Universität Limerick und war bis 2014 bei der Staatlichen Behörde für Arbeitnehmerrechte beschäftigt. Sein Debüt „The Spinning Heart“ („Die Gesichter der Wahrheit“) wurde 47-mal von Verlagen abgelehnt, ehe er 2012 bei Lilliput Press, einem der führenden unabhängigen Verlage in Irland, erschien. Ryan erhielt daraufhin für seinen Erstling den Irish Book Award (Kategorie Newcomer), den Guardian First Book Award und drei Jahre nach Erscheinen des Buchs den Literaturpreis der Europäischen Union verliehen. Mit „From a Low and Quiet Sea“ („Die Stille des Meeres“) stand er auf der Longlist des Man Booker PrizeZuletzt wurde er für „Seltsame Blüten“ („Strange Flowers“) erneut mit dem Irish Book Award (Kategorie Novel of the Year) geehrt.

Der Roman verzaubert nicht nur durch seine vielseitige wie poetische Sprache. In diesem Buch liegt ganz viel Wärme und Menschlichkeit, werden in den einzelnen Familienmitgliedern die großen Themen des Lebens abgehandelt. Es geht um Liebe und Zugehörigkeit, um Geheimnisse und Schuld – und eine „Sünde“, die erst durch die Intoleranz und Scheinheiligkeit der Menschen zu einer solchen gemacht wird. Am Ende erlebt Kit, nunmehr betagt, erneut die Rückkehr eines geliebten Menschen an der Seite ihr noch unbekannter Personen. Die Geschichte über Ankommen und Rückkehr an Orte, wo Generationen zusammenfinden, sind wohl die schönsten, vor allem wenn sie so berührend und so klug erzählt sind wie jene des Iren.


Donal Ryan: „Seltsame Blüten“, erschienen im Diogenes Verlag, in der Übersetzung aus dem irischen Englisch von Anna-Nina Kroll; 272 Seiten, 24 Euro

Foto von Magdalena Smolnicka auf Unsplash

2 Kommentare zu „Donal Ryan – „Seltsame Blüten“

    1. wieder steht da Anonymous, ich komme einfach nicht mehr richtig rein in deinen Blog, jetzt wurde ich sogar aufgefordert, mich für den Newsletter (den ich ja seit Jahren bekomme) anzumelden. Verstehe es nicht;(( Liebe Grüße, Elvira

      Like

Kommentar schreiben

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..