Simone Kucher – „Die lichten Sommer“

„Das wahre Leben waren diese Nächte und die Tage, tja, zäh und leer.“ 

Vertreibung ist eine Form der Gewaltmigration und meint die räumliche Mobilisierung durch Gewalt ohne Maßnahmen zur Wiederansiedlung. So ist es in dem Band „Globale Migration. Geschichte und Gegenwart“ von Jochen Oltmer zu lesen. Diese Wendung ist auf den Punkt gebracht, allerdings auch sachlich und nüchtern, wenngleich sich dahinter Millionen Schicksale verbergen. Allein aus den Regionen, die heute als sudetendeutsche Heimatlandschaften bekannt sind, werden in den Jahren 1945 und 1946 während und nach dem Zweiten Weltkrieg rund drei Millionen Menschen vertrieben. Frauen, Männer, Kinder. Simone Kucher erzählt in ihrem stillen wie ergreifenden Debüt ihre Geschichte.

Mutter und Tochter – Zwei Geschichten

Jene Geschichte kommt indes nicht von ungefähr. Für die Recherche zu dem WDR-Hörspiel „Von einem zum anderen Tag“ reiste die Berliner Theater- und Hörspielautorin 2016 erstmals in das südmährische Dorf Želetice, in dem ihre Großmutter aufgewachsen war. Nun, in ihrem Romandebüt, lernen wir zuerst Elisabeth, kurz Liz genannt, kennen. Es sind die 50er-Jahre. Ihre Eltern führen in einem süddeutschen Ort mehr schlecht denn recht ein Gasthaus, nachdem sie die erste Zeit nach der Vertreibung aus der ehemaligen Tschechoslowakei in Baracken gehaust haben, wo auch Liz die ersten Kindheitsjahre verbrachte. Als erste im Dorf haben sie einen Fernseher, mit dem das Mädchen das Märchen vom kalten Herz kennenlernt. Schon mit 14 Jahren arbeitet sie als Aushilfe in einer Batteriefabrik. Der Vater trinkt, schlägt seine Tochter und verweigert ihr die erhoffte Lehre, die sie in Aussicht hat. Die Mutter Nevenka zieht sich mehr und mehr in ihre Erinnerungen zurück, macht über die dramatischen Erlebnisse, die sie und ihre Familie erfuhren, nur leise Andeutungen. Was ist damals mit Tante Rosa geschehen? Wer ist das Mädchen, von dem Mutter redet?

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Zeitsprung und ein Ortswechsel: Es ist das Jahr 1944. Ein Dorf nahe Brünn. Nevenka lernt das tschechische Mädchen Zena kennen, dessen Mutter Romane und Kinderbücher auf tschechisch schreibt, dessen Vater Pavel in der Festung Spielberg interniert ist. Nevenkas ältere Schwester arbeitet in einer Schuhfabrik, der Vater führt eine Perlmutt-Werkstatt. Die beiden Mädchen werden trotz aller Unterschiede Freundinnen in schwierigen Zeiten, in denen Besatzung und der spätere Krieg ein Keil zwischen der deutschen und der tschechischen Bevölkerung getrieben haben. Keine der Figuren des Buches bleibt in irgendeiner Weise von den Geschehnissen unberührt.  Die Mädchen verstecken heimlich einen kleinen Jungen namens Arthur, der Sohn des Gutsbesitzers verschwindet, bevor die Russen kommen. Im folgenden Chaos am Kriegsende ist nichts mehr wie es war. Der Tausch einer Armbinde wird fatale Folgen haben. Nevenka besteigt später mit ihrer Mutter Olina einen Laster. Es sind die wohl erschütterndsten Szenen des Buches, durch das sich kleine wie große Erschütterungen wie eine Perlenkette ziehen.

„Dass die Zeit nicht immer geradewegs nach vorn galoppiert, sondern sich umdreht und in sich weit öffnende Schluchten versinkt.“

Die Geschichten beider Frauen – Mutter und Tochter – werden abwechselnd erzählt. Nach und nach füllen sich die Leerstellen im Leben Nevenkas, wenngleich erst am Ende sich das Bild ihrer Kindheit und Jugend vollständig zusammensetzt lässt, die traumatischen Verluste erkennbar werden. Weiße, indes tiefgreifende Flecken, von denen Liz kaum etwas ahnen konnte. Wenn auch, wenn die Mutter nicht berichtet, die Tochter nicht fragt, weil sie als spätere Frau vor einem eigenen Scherbenhaufen steht. Jede Anstrengung selbstständig zu werden, wird unterbunden: in der Jugend vom Vater, später vom Ehemann. Und jede Hoffnung auf eine gute Wendung wird binnen kurzer Zeit zerschlagen.

Noch immer haftet an der Familie der schlechte Ruf der Vertriebenen, dem schon ihre Eltern ausgesetzt sind. Die misstrauisch von den Einheimischen beäugt werden, verzweifelt um Anerkennung und Wohlstand kämpfen. Die Ehe, die Liz gerade 18-jährig mit Robert eingeht, ist schnell zerrüttet. Die Gewalt, die sie selbst erlebt hat, gibt sie an ihre Kinder weiter. Alles wird ihr letztlich zu viel – letztlich auch das eigene Leben.

Von Entwurzelung und Heimatlosigkeit

Welche Folgen hat es, wenn eine Generation nicht berichtet, die nächste nicht fragt. Welche traumatischen Geschehnisse infolge einer Entwurzelung, einer Heimatlosigkeit werden weitergeben. All das sind die großen Fragen, mit denen sich der vielschichtige Roman neben weiteren Themen wie Identität und Gewalt beschäftigt. Es sind schon viele Romane über Krieg und Nachkriegszeit und deren Folgen geschrieben worden, doch Simone Kucher gelingt es, ihrem Debüt einen besonderen Ton zu verleihen.

Trotz aller dramatischen Geschehnisse, Schicksalsschläge und des historischen Hintergrunds hat „Die lichten Sommer“ etwas Zartes an sich. Szenen und Stimmungen werden sehr bildhaft und sinnlich vermittelt. Imponierend, wie der Autorin es gelingt, die Balance zwischen dunkler Schwermut und einem hellen Optimismus, der sich wohl nur mit der Kraft der beiden Frauen erklären lässt, zu halten. Der Leser ist nah an den beiden Heldinnen, an ihrem Leben, das viele Träume und Wünsche unverwirklicht lässt. Zwei Leben, die den Leser lange beschäftigen werden. Wie rundum dieses wunderbare Buch.

Weitere Besprechungen auf den Blogs „Klappentexterin und Herr Klappentexter“ und „Lust auf Literatur“.


Simone Kucher: „Die lichten Sommer“, erschienen im Kjona Verlag; 240 Seiten, 23 Euro

Foto von Marek Piwnicki auf Unsplash

Ein Kommentar zu „Simone Kucher – „Die lichten Sommer“

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