James Kestrel – „Fünf Winter“

„In seinem Inneren machte sich eine Stille breit, ein tiefer, dunkler Raum.“

Paradies im Pazifik, tropische Perle. Hawaii ist Sehnsuchtsort und Traumziel. Am 7. Dezember 1941 wird die Insel indes zur Hölle. Mehr als 2.400 Menschen sterben beim Angriff der japanischen Armee auf die US-amerikanische Pazifik-Flotte in Pearl Habor. Joe McGrady, Police Detective auf Hawaii und Ex-Soldat, wird da schon auf der anderen Seite des Ozeans, in Hongkong sein. Er ist auf der Suche nach einem kaltblütigen Mörder, nichtsahnend, dass seine Jagd ihn fünf Jahre lang von seinem Zuhause trennen wird. „Fünf Winter“ heißt denn auch der Roman des Amerikaners James Kestrel, der dafür zwei hochrangige Preise erhalten hat.

Spuren führen über den Pazifik

Kestrel ist das Pseudonym von Jonathan Moore, der vor seinem Jura-Studium einen recht abenteuerlichen Werdegang absolvierte, unter anderem Restaurant-Besitzer in Taiwan, Wildwasser-Rafting-Führer sowie Betreuer in einem Camp für jugendliche Straftäter war. Er lebt mit seiner Familie auf Hawaii, das er zu einem Schauplatz seines neuesten Romans macht. In einem Schuppen auf einer Milchfarm werden im November 1941, nur wenige Woche vor dem Angriff auf Pearl Habor, zwei brutal zugerichtete Leichen entdeckt. Bei den beiden Opfern handelt es sich um den seit einigen Tagen vermissten Neffen des US-Oberbefehlshabers der Pazifikflotte sowie dessen japanische Freundin. McGrady wird der Fall übertragen, der von seinem missliebigen Vorgesetzten Captain Beamer Fred Ball als Partner an die Seite gestellt bekommt. Ein unangenehmer Zeitgenosse, der Geständnisse gern aus Verdächtigen herausprügelt. McGrady glaubt nicht an einen Einzeltäter. Als auf Wake-Island eine ebenfalls entsetzlich zugerichtete Leiche mit ähnlichen Verletzungen gefunden wird, begibt sich der Detective allein auf die Fährte des Mörders, der sich als John Smith ausgibt und von Zeugen als „Riese“ beschrieben wird. Seine Spuren führen nach Hongkong.

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Zu diesem Zeitpunkt glaubt McGrady, in wenigen Wochen wieder auf Hawaii und bei seiner Freundin Molly zu sein, für die er noch eine Überraschung vorbereitet hat, um ihr seine tiefen Gefühle zu beweisen. Die Ereignisse überschlagen sich, als er Ziel eines Komplotts und fälschlich eines Verbrechens beschuldigt und inhaftiert wird. Er gerät in die Fänge der Japaner, die Hongkong eingenommen haben. Mit einem Trampschiff wird er nach Japan gebracht. Doch anstatt in ein Gefangenenlager zu kommen oder getötet zu werden, nimmt der Diplomat und Mitarbeiter im japanischen Außenministerium Takahashi Kansai ihn in seine Obhut. Seine Tochter Suchi lehrt dem Amerikaner, der aus Sicherheitsgründen das Haus in Tokyo nicht verlassen darf, die japanische Sprache. Jahre ziehen ins Land. Erst nach der Kapitulation Japans kehrt McGrady zurück, den alle für tot gehalten habe. Doch seine Jagd nach dem brutalen Mörder und dessen Helfershelfer ist noch längst nicht beendet…

Besondere Schauplätze, spezielle Zeit

Hawaii, Hongkong, Tokyo: Kestrel hat für seinen Roman nicht nur besondere Schauplätze ausgewählt, er führt den Leser auch direkt in eine Zeit und in historische Ereignisse hinein, die uns Europäern wohl nicht ganz so vertraut sind, wenngleich der Zweite Weltkrieg in jeder Schule behandelt und in unzähligen TV-Dokumentationen thematisiert wird. Kestrel lässt verschiedene Formen von Gewalt aufeinandertreffen, die im Fall der drei Morde allerdings miteinander verbunden sind: die Gewalt des Krieges sowie die eines heimtückischen Mörders, der seine Verbrechen aus einem speziellen Motiv heraus plant und sie mit einer besonderen Waffe ausführt: einem Mark-I-Grabendolch, einst eine berüchtigte Nahkampfwaffe der US-Streitkräfte.

„Er sah einen Raubvogel über dem Wasser kreisen, einen Schwarzmilan, wie er vermutete. Der Vogel gehörte so wenig in die Stadt wie McGrady, war aber doch in seinem Element. Auf der Jagd.“

Doch trotz der brutal zugerichteten Opfer, der detaillierten, schlachthausreifen Obduktionsbeschreibungen sowie der verheerenden Kriegsschäden – so werden vor allem die Luftangriffe auf Tokyo und die dramatischen Folgen thematisiert – ist „Fünf Winter“ nicht unbedingt und in erster Linie ein rundum blutiger Roman. Kestrel ist ein Meister im bedächtigen und detaillierten Erzählen, die Beschreibungen von ungemein bildhaften Szenen, sei es mit Blick auf die Orte, Stimmungen oder das Äußere der handelnden Personen, nehmen viel Raum ein. Man hat unweigerlich das Gefühl, im Kopf spult sich ein epischer Film ab.

Ein unvergesslicher Held

Ein Film mit einem tragischen Helden, der Eindruck macht, den man – so pathetisch wie es klingen mag – irgendwie ins Herz schließt. McGrady gilt auf Hawaii als Fremder. In Virginia aufgewachsen, verliert er als Jugendlicher seinen Bruder, der an der Spanische Grippe erkrankt und stirbt. Er dient in der Army in China, ehe er zur Polizei geht. In diese dunkle Männerwelt wirkt Suchi, die Tochter von Takahashi und schließlich McGradys Geliebte, wie eine reine Schneeflocke. McGrady, der moralische Prinzipien verfolgt, muss allerdings erkennen, dass sie in Kriegszeiten schwer zu verteidigen sind. Er nimmt Schuld auf sich, muss töten, um sich und Suchi vor dem Tod zu bewahren. Das Ende des Romans, nachdem McGrady ein zweites Mal den Pazifik überquert und eine Art zweite Odyssee erlebt, enthält viel Romantik und große Gefühle, jedoch ohne kitschig zu wirken.

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Niedergebranntes Stadtviertel von Tokio nach dem Luftangriff vom 10. März 1945. (Foto: Ishikawa Kōyō)

„Fünf Winter“ hat viele Seiten, aus denen faszinierende Kontraste und ein meisterhaftes Panorama entstehen. Er ist spannender Thriller, berührende Liebesgeschichte und eindrücklicher historischer Roman in einem, der in eine Zeit führt, in der Telegramme verschickt wurden, Polizisten ihre Berichte auf der Schreibmaschine verfasst haben, Fingerabdrucke noch mit der Lupe verglichen worden. Es scheint, als habe sich der US-Amerikaner mit seinem ruhigen Erzählen dieser Zeit angepasst.

Kestrel erhielt für seinen Roman 2022 sowohl den Edgar Award als auch den Barry Award verliehen; zwei der hochrangigsten amerikanischen Literaturpreise im Krimi- und Thriller-Genre. Aktuell steht sein Roman zudem auf der Krimibestenliste von Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur. „Fünf Winter“ zählt zu jenen Krimis, die aus der Masse herausragen, die in Erinnerung bleiben und bei denen man nicht erst auf den letzten Seiten hofft, dass der Held irgendwie irgendwann wieder auftauchen wird. Und er verhandelt die Frage: Was wäre wenn? Was, wenn bestimmte Ereignisse nicht geschehen wären, weil eine einzige Begebenheit zuvor nicht passiert wäre. Ob im Leben eines Menschen oder im Lauf der Geschichte eine immer wiederkehrende, aber noch immer spannende Frage.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Buch-Haltung“.


James Kestrel: „Fünf Winter“, erschienen im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux, herausgegeben von Thomas Wörtche; 499 Seiten, 20 Euro

Foto von Samuel Berner auf Unsplash

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