„Man muss die Schatten richtig lesen.“
Cape Cod – nahezu unberührte Strände, das Rauschen des Atlantiks, ein intensives Licht, wie nur das Zusammenspiel von Meer und Himmel hervorbringt. Die Halbinsel im US-Bundesstaat Massachusetts ist seit jeher beliebtes Urlaubsziel. Auch Edward und seine Frau Josephine verbringen hier in ihrem Häuschen den Sommer fernab des Trubels New Yorks. Er durchstreift die Gegend nach einem passenden Motiv: einem Haus, einer Person, einer Landschaft. Seine Bilder sind begehrt. In der Kunstszene bereits zu Lebzeiten eine Ikone der modernen Malerei, ist Edward Hopper (1882-1967) in dem eindrücklichen Roman der irischen Schriftstellerin Christine Dwyer Hickey indes nur eine von mehreren Hauptfiguren. Der heimliche Star ist vielmehr ein Waisenkind.
Zwei Jungen und ein Ehepaar
Sommer 1950: Michael wird von seiner Adoptivmutter in den Zug nach Cape Cod gesetzt – im Gepäck ein Comic, Schokoriegel, ein paar Dollars und Kuchen für seine Gastgeberinnen. Er soll die kommenden Wochen bei den Kaplans, einer befreundeten Familie, verbringen. Michael hat seine Eltern verloren, er ist Deutscher und kam nach dem Krieg nach Amerika. Zwei Jahre hat er in einem Camp verbracht, ehe er an die Novaks vermittelt werden konnte. Seine Muttersprache hat er fast vergessen, geblieben sind ihm jedoch seine Erinnerungen an den Krieg. In Cape Cod lernt er nicht nur Mrs Kaplan, ihre Tochter und deren Sohn Richie kennen, sondern auch Mrs und Mr Aitch, alias Mrs und Mr Hopper, die allmählich die Nähe zu den beiden Jungen suchen und auch genießen – trotz ihrer Unterschiede oder gerade deswegen.
Denn Richie und Michael können sich nicht wirklich riechen. Sie bleiben sich fremd, obwohl sie gleichaltrig sind und ein ähnliches Schicksal teilen. Und auch zwischen Edward und Josephine herrscht eine gewisse Spannung. Ihre Ehe ist nicht unbedingt harmonisch. Wenn auch – wenn der Mann berühmt ist, die Frau ebenfalls als Künstlerin wahr- und ernstgenommen werden will. Sie fühlt sich ausgenutzt und einsam. Es fliegen die Fetzen, wenngleich ihr Mann ihren Vorwürfen und Eifersuchtstiraden auszuweichen versucht. Er geht auf Motivsuche, sie sucht indes die Gesellschaft und mehr und mehr die Verbindung zu den Kaplans. Und sie erkennt Michaels besondere Gabe: Er hat ein visuelles Gedächtnis, was er sieht, prägt er sich ganz genau ein. Regelmäßig besucht Michael das ältere Ehepaar, er und Josephine lesen, wandern und schauen sich gemeinsam Bilder an. Die beiden Konflikte – jener zwischen den Hoppers und jener zwischen Michael und Richie beziehungsweise dessen Familie – spitzen sich am Ende zu. Doch es ist immer wieder das Künstlerehepaar, das als Vermittler wirkt. Sie streiten sich, aber der eine kann nicht ohne den anderen.
Wunden des Krieges
Dabei sind es vor allem Ereignisse und Stimmungen im Hintergrund, die maßgeblich die Szenerie dieser Tage und Wochen, die aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird, prägen. Cape Cod ist nicht frei von Misstönen und kein Ort der reinen Harmonie und Idylle: Richies Tante Katherine ist schwer an Krebs erkrankt, ihr Neffe leidet unter dem Verlust seines Vaters, der als Soldat gefallen war, und nimmt seiner Mutter es übel, wenn sie nach einem neuen Partner Ausschau hält. Überhaupt liegt über dieser Zeit noch immer der Schatten des Zweiten Weltkrieges. Die Wunden ob der Verluste und die Trauer sind noch frisch, und schon zieht am Horizont der nächste Krieg auf – der in Korea, am anderen Ende der Welt, in dem vier Millionen Menschen sterben werden.
„Immer, wenn er nun zufällig hochblickt, haben sich die Formen verwandelt, hat sich die Intensität des Lichts verändert – vom ersten chromgelben Strich auf dem Boden bis zum jüngsten weißen Keil im Türspalt. Und es wird ihm, wieder, bewusst, dass die Achse sich dreht, dass selbst zu dieser frühen Morgenstunde sich der Tag bereits auf den Tod zubewegt.“
Wer indes darauf hofft, „Schmales Land“ gibt einen umfassenden Einblick in das Leben und Schaffen Hoppers, den muss ich an dieser Stelle leider enttäuschen. Es sind oftmals nur kurze Verweise auf Eigenheiten des berühmten Malers, die sich im Verlauf des Buches finden lassen – wie eben seine akribische Motivsuche, der Bau von Modellen, seine Sehnsucht nach Paris sowie die intensive Lektüre der Texte Michel de Montaignes. Doch der vielfach preisgekrönten Autorin gelingt die Verbindung zur Kunst auf eine ganz andere, sehr besondere Weise: Ihr Roman ist ein Fest der Sprachkunst, ihre Beschreibungen von Licht und Schatten, von Farben und Formen erinnern an großartige Bilder, manche Szenen an ein Stillleben, die Übersetzerin Uda Strätling wunderbar ins Deutsche übertragen hat.

Hopper zählt zu den einflussreichsten Künstlern der Moderne und gilt als Chronist des amerikanischen Alltags. Seine Werke werden dem amerikanischen Realismus zugewiesen. Begonnen hat Hopper wenige Jahre nach der Jahrhundertwende als Illustrator für Werbeagenturen. Zweimal bereiste er umfangreich Europa. Mit der Teilnahme an einer Gruppenausstellung im Brooklyn Museum of Art, das 1923 schließlich eines seiner Bilder ankaufte, gelang ihm der Durchbruch. Zehn Jahre später zeigte das Museum of Modern Art in New York eine Retrospektive. 1952 zählte er zu den wenigen Künstlern, die die USA bei der Biennale in Venedig vertraten. Sein letztes Bild mit dem Titel „Two Comedians“ zeigt den Maler und dessen Ehefrau als Schauspieler, die sich gerade von ihrem Publikum verabschieden. Hopper starb am 15. Mai 1967 in seinem New Yorker Atelier, in dem er mehr als fünf Jahrzehnte gelebt und gearbeitet hat. Josephine, die er oft auf seinen Bildern verewigte, „folgte“ ihm nur zehn Monate später, im März 1968. Mit seinen Werken beeinflusste er Fotografen und Filmregisseure. 2013 wurde Hoppers Gemälde „East Wind Over Weehawken“ für 40,5 Millionen Dollar in New York versteigert, 2018 kam sein Werk „Chop Suey“ für 91,9 Millionen Dollar unter den Hammer. Sein Bild „Sea Watchers“ ziert das Cover des Romans.
Verlust und Vergebung
Für ihren Roman erhielt Christine Dwyer Hickey, 1958 in Dublin geboren und Verfasserin von Romanen, Kurzgeschichten und Theaterstücken, den Walter Scott Prize und den Dalkey Literary Award verliehen. „Schmales Land“ ist ein vielschichtiger wie berührender Roman über die Allmacht widerstreitender Gefühle, Verlust und Vergebung, der von seinen allzu menschlichen Figuren und einem ganz besonderen Schauplatz lebt. Dass den Hoppers und den beiden Jungen letztlich nur dieser eine gemeinsame Sommer bleibt und diese Freundschaft zweier verschiedener Generationen keine Fortsetzung erfährt – darin liegt auch eine gewisse Tragik, die traurig stimmt.
Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „Buch-Haltung“ und „Schreiblust Leselust“.
Christine Dwyer Hickey: „Schmales Land“, erschienen im Unionsverlag, in der Übersetzung aus dem Englischen von Uda Strätling, 416 Seiten, 26 Euro
Foto von Kelly Sikkema auf Unsplash