Annett Gröschner – „Schwebende Lasten“

„Wäre Hanna eine Blume gewesen, dann am liebsten eine Hortensie.“ 

Nach Hannas Ende kommen die Zwergsonnenblumen. Sie wachsen, begrenzen das Grundstück, auf dem einst der Laden gestanden hat, wo sie als Floristin gearbeitet hatte. Da ist Hanna schon nicht mehr, oder in einer besonderen Weise doch? Ihr Leben war lang und wechselvoll – und gezeichnet von der Zeit. Fast ein Jahrhundert, vier politische Systeme und zwei Weltkriege (über-)erlebte die Heldin in Annett Gröschners großartigen Roman „Schwebende Lasten“.

Eine Magdeburger PFlanze

Hanna Krause ist trotz mehrerer Berliner Episoden in ihrer Jugend eine echte Magdeburger Pflanze. In der Stadt an der Elbe, in dem Armenviertel mit dem eigenwilligen Namen Knattergebirge wächst sie auf. Ohne Vater und später auch ohne Mutter, aber mit einem kleinen „Strauß“ an (Halb-)Schwestern um sich. Sie wird rechte Hand ihrer Halbschwester Rose, die einen Blumenladen führt, und eröffnet schließlich später selbst ein Floristik-Geschäft. Die Blumen stammen aus dem Garten der Eltern ihres Mannes Karl, das Grün kommt aus Wald und Park. Doch die Zeiten werden rauer, der Laden geht später den Bach runter.

Doch es ist immer wieder Hanna, die die Familie zusammenhält, für ihr Auskommen sorgt. Karl verliert erst seinen Job bei der Eisenbahnversicherung, später sein Bein bei einem Arbeitsunfall im Krupp Gruson Werk, wo Hanna schließlich putzt, wo das Kriegsmaterial, Panzer wie Artillerie, für die Front produziert wird. Die Familie wächst, immer wieder wird Hanna schwanger, auch ungewollt. Dann kommen die Bomben. Und Magdeburg wird dem Erdboden gleichgemacht. Das Werk und das Haus der Familie werden zerstört. Sohn Johannes wird von einer Feuerwand verschlungen. Diese Szenen der massiven Zerstörung der Stadt, eines Magdeburg als Trümmerwüste und Todesland, sind die wohl ergreifendsten dieses in seinen Bildern so ausdrucksstarken Buches. Verlust und Trauer sind traurige Konstanten und durchziehen das Leben Hannas, die allerdings immer wieder Stärke zeigt, das Heft des Handelns in die Hände nimmt. „Bevor Hanna grübeln konnte, war sie schon am Machen“, heißt es an einer Stelle.

Gemälde als roter Faden

Denn es sind die Pflanzen, die ihr Halt und Trost geben. Sie spricht mit ihnen, vergleicht Menschen mit Blumen. Über jedem Kapitel steht der Name einer Pflanze mit einer kurzen Beschreibung – vom Blaustern bis zur eingangs erwähnten Zwergsonnenblume. Sie alle sind auf einem Gemälde des niederländischen Barockmalers Ambrosius Bosschaert (1573-1621) zu sehen, dessen berühmte Blumenbilder Pflanzen aus verschiedenen Blühzeiten vereint und nie einen wirklichen Strauß zeigen.

Die Pflanzenwelt, das Leben schlechthin, bildet einen Kontrast zum Tod – durch Krieg, Zerstörung, unfassbare Tragödien wie das Zugunglück am 6. Juli 1967 bei Langenweddingen, eine der größten Katastrophen in der DDR. 94 Menschen starben damals und wurden plötzlich aus dem Leben gerissen, darunter viele Kinder. Wie Gröschner ein fiktives Leben und reale Geschichte nahezu verschmelzen lässt, ist erzählerisch von beeindruckender Meisterhaftigkeit, ihr Roman eine Geschichtsstunde der besonderen Art. Auch der Aufstand am 17. Juli 1953 darf nicht fehlen, in jenem Jahr absolviert Hanna eine Umschulung zur Kranfahrerin. Auf der Krankanzel verschlingt sie Thomas Mann. Die Jahre, Jahrzehnte vergehen, die Kinder werden erwachsen, Enkel kommen zur Welt, Karl stirbt, die Wende lässt die DDR von den Weltkarten verschwinden.

„Hanna existierte. Nicht mehr und nicht weniger. Sie hatte versucht, über das Menschsein nachzudenken, war aber zu keinem Ergebnis gekommen, außer dass Blumen ihr menschlicher vorkamen als ihre eigene Gattung.“

Annett Gröschner, 1964 in der Stadt ihres Romans, in Magdeburg geboren, studierte Germanistik in Ost-Berlin und Paris. In den 90ern arbeitete sie als Historikerin für das „Prenzlauer Berg Museum“ und war an zahlreichen Forschungs-, Buch- und Ausstellungsprojekten beteiligt. Mit „Moskauer Eis“ erschien im Jahr 2000 ihr Romandebüt, zuletzt ihr mit Peggy Mädler und Wenke Seemann verfasster Bestseller „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“. Zahlreiche Preise würdigten ihr Schaffen. Sie erhielt unter anderem den Fontanepreis, den Klopstock-Preis und den Mainzer Stadtschreiber Literaturpreis von ZDF, 3sat und der Landeshauptstadt Mainz.

Nun mit „Schwebende Lasten“ sind die Chancen für eine nächste große Auszeichnung (Deutscher Buchpreis?) wohl recht aussichtsreich. Denn der Autorin ist ein faszinierendes Porträt einer eindrucksvollen Frau in den Wirren des 20. Jahrhunderts und einer Stadt, die wohl nicht so häufig in der Literatur zu finden ist, gelungen. Ein Roman, der auch sprachlich dank eines eigenwilligen Tones und reichlich Poesie vollkommen überzeugt. Und ich sehe die Szenen schon auf der großen Leinwand. Wer wohl die Hauptrolle bekommt?

Weitere Besprechungen sind zu finden auf den Blogs „Buch-Haltung“, „Binge Reading & More“, „letteratura“ und „literaturleuchtet“. Und auch Vera von „glasperlenspiel13“ schreibt über die Autorin und ihr Buch.


Annett Gröschner: „Schwebende Lasten“, erschienen im Verlag C. H. Beck; 282 Seiten, 26 Euro

Foto von Artsy Vibes auf Unsplash

2 Kommentare zu „Annett Gröschner – „Schwebende Lasten“

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